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Erstes Baby aus der Retorte feiert 30. Geburtstag

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Durch eine künstliche Befruchtung entstandener Embryo.(Achtzellstadium)

31.07.2008  - 

Für ihre Eltern war sie einfach ‚Louise Brown’, die Zeitungen nannten sie ‚Superbabe’. Bei ihrer Geburt, damals vor dreißig Jahren, ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft. Louise war das erste Kind, das nicht durch Geschlechtsverkehr, sondern im Labor gezeugt worden war. Inzwischen gibt es vier Millionen Babies aus der Retorte. Die künstliche Befruchtung wird nicht mehr in Frage gestellt, aber Diskussionen gibt es immer noch - vor allem um die Chancen und Risiken der Präimplantationsdiagnostik (PID), die in Deutschland verboten ist.

Am 25. Juli 1978 war die Premiere perfekt: Das erste Retortenbaby erblickte in Großbritannien das Licht der Welt. Zum ersten Mal war ein Mensch nicht durch Geschlechtsverkehr, sondern im Reagenzglas entstanden. Eine solche künstliche Befruchtung (in vitro Fertilisation, IVF) ist heute keine Sensation mehr. Vier Millionen Babies sind bereits auf diese Art entstanden. Wissenschaftler bringen dabei Ei- und Samenzellen der Eltern außerhalb des Körpers im Reagenzglas (in vitro) zusammen. Die auf diese Art befruchteten Eizellen (Zygoten) werden der Mutter schließlich eingepflanzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dann auch tatsächlich eine Schwangerschaft eintritt, liegt etwa bei 20 bis 40 Prozent und nimmt mit zunehmendem Alter ab. In Deutschland ist eine künstliche Befruchtung zulässig, wenn bei einem Paar trotz regelmäßigem, ungeschützten Geschlechtsverkehr die Schwangerschaft ausbleibt. Geschätzte eine Million Paare sind hierzulande kinderlos, obwohl sie gern Kinder hätten. Ganz problemlos ist eine IVF indes nicht: So müssen die Frauen eine Hormonbehandlung über sich ergehen lassen, um mehrere Eizellen zur Reifung zu bringen.

Embryo am dritten Tag nach der Befruchtung unter dem Elektronenmikroskop: Durch das kleine Loch hindurch kann eine Zelle für die PID entnommen werden.Lightbox-Link
Embryo am dritten Tag nach der Befruchtung unter dem Elektronenmikroskop: Durch das kleine Loch hindurch kann eine Zelle für die PID entnommen werden.

Prognose: Eizellen aus Hautzellen

"Eine künstliche Befruchtung ist heute immer noch sehr belastend - körperlich wie seelisch", sagt Klaus Diedrich von der Universitätsfrauenklinik in Lübeck. Langfristig werde der Eingriff jedoch sanfter, so die Prognose des Reproduktionsmediziners. Zumal die aktuellen Verfahren der künstlichen Befruchtung auch längst von neuen Erkenntnissen überholt werden. „In 30 Jahren werden wir gewiss so weit sein, dass wir aus einfachen Hautzellen Ei- und Samenzellen herstellen können, die wir zu Embryonen verschmelzen“, glaubt etwa der Stammzellbiologie Miodrag Stoijkovic, der Deutschland im Jahr 2003 wegen seiner restriktiven Stammzellpolitik den Rücken gekehrt hatte und erst nach Großbritannien, später nach Spanien ging. „Theoretisch kann dann jeder Mensch, gleiche welchen Alters, Kinder haben“, so der Wissenschaftler. Unfruchtbarkeit, wie wir sie heute kennen, gäbe es dann nicht mehr. Stojkovic spielt dabei auf jüngste Ergebnisse in der Stammzellforschung an, ausgereifte erwachsene Hautzellen zu Stammzellen umzuprogrammieren (mehr...) In einem solchen Fall hält es der US-amerikanische Entwicklungsbiologe Davor Solter vom Institute of Medical Biology für möglich, dass der Umgang mit Embryos langfristig weniger moralisch bewertet wird. „In 20 bis 30 Jahren werden wir in den Zeitungen lesen, dass jemand 20.000 Embryonen hergestellt und ihre Entwicklung studiert hat, und wir werden das okay finden“, sagte Solter im Fachmagazin Nature (2008, Vol. 454, S. 260), das aus Anlass des 30jährigen IVF-Jubliäums führende Experten nach Trends in der Zukunft befragt hat.

Vor dreißig Jahren nannten die Zeitungen das erste Retortenbaby 'Superbabe'. Lightbox-Link
Vor dreißig Jahren nannten die Zeitungen das erste Retortenbaby 'Superbabe'. Quelle: biotechnologie.de

PID in Deutschland verboten

Darüber hinaus glauben viele Wissenschaftler, dass die pränatale Gendiagnostik eine immer größere Rolle spielen wird – in Deutschland ist das Thema jedoch heiß umstritten. So ist es hierzulande verboten, die im Labor erzeugten Eizellen vor dem Einsetzen in den Mutterleib auf genetische Erbkrankheiten zu untersuchen, selbst wenn die Eltern nachweislich die Disposition dafür in sich tragen oder bereits Kinder mit solchen Krankheiten haben. Während die Embryonen auf diese Weise geschützt werden, ist später – falls sich das Ungeborene im Mutterleib als schwerkrank herausstellt – eine Abtreibung erlaubt. Nicht zuletzt aufgrund dieser Rechtslage fordern Experten schon seit langem, eine Zeugung auf Probe zu erlauben. Dafür hatte sich breits im Jahr 2003 der Nationale Ethikrat ausgesprochen. Eine Neuregelung wird umso mehr gefordert, als die Präimplantationsdiagnostik (PID) in den meisten anderen europäischen Ländern längst erlaubt ist. Auf dem Weltkongress der Genetik Mitte Juli in Berlin hatte sich die deutsche Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard erst wieder für die PID ausgesprochen (mehr...). Was für viele Ärzte noch viel schwerer wiegt: Sie dürfen die Eizellen hierzulande nicht einmal unter dem Mikroskop betrachten, um die besten Embryonen auszusuchen. In Deutschland müssen alle für die Befruchtung erzeugten Embryonen (maximal drei) auch in den Mutterleib eingepflanzt werden. Mediziner kritisieren, dass sich dadurch der beste Embryo nicht ausreichend entwickeln kann und es in vielen Fällen zu Mehrlingsschwangerschaften kommt, die für Mutter und Kinder Risiken bergen. Im Ausland ist eine Auswahl erlaubt. „Während hier pro Monatszyklus 21 von 100 IVF-behandelten Frauen ein Baby bekommen, sind es im Ausland 16“, sagt Reproduktionsmedizin Diedrich.

Die Regierung will für den Blick ins Genom einen gesetzlichen Rahmen schaffen.Lightbox-Link
Gendiagnostikgesetz:

Jahrelang lag das Thema auf Eis, nun will die Bundesregierung einen gesetzlichen Rahmen für die Gendiagnostik schaffen. Das Bundesgesundheitsministerium hat einen ersten Entwurf vorgelegt.

Mehr Informationen

Karl Sperling, Humangenetiker an der Charité, plädiert in einem Beitrag des Gendiagnostik-Berichts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) dafür, die PID auch in Deutschland nach dem Vorbild zahlreicher europäischer Staaten an wenigen Zentren und für genau definierte Zwecke zuzulassen. Dass eine solche Untersuchung nicht zu einer unkontrollierten Ausweitung führt – wie oft befürchtet wird - , hatte im Jahr 2006 die Medizinsoziologin Irmgard Nippert im Rahmen eines Gutachtens für die Friedrich-Ebert-Stiftung belegen können. Dafür wurden Behandlungszahlen aus Belgien, Frankreich und Großbritannien ausgewertet sowie Experteninterviews durchgeführt.

Nachwievor strittig ist indes, ob eine PID auch sinnvoll ist, wenn nicht gezielt nach bestimmten Erbkrankheiten, sondern allgemein nach unnormalen Chromosomensätzen gesucht wird. Eigentlich soll damit die Chance vergrößert werden, dass durch eine künstliche Befruchtung auch tatsächlich gesunde Babies auf die Welt kommen. Wie das Fachmagazin Nature (2007, Nature, Vol. 445, S. 479) berichtete, konnte die Forschung aber bislang noch nicht zweifelsfrei nachweisen, dass es mit einem solchen Screening auch gelingt. Ganz im Gegenteil würden viele Studien eher keine signifikante Verbesserung durch das Screening belegen. So hatten niederländische Wissenschaftler im Juli im Fachmagazin New England Journal of Medicine (NEJM) berichtet (2007, Vol. 357, S. 9), dass die PID offenbar nicht die sogenannte ‚Baby-Take-Home’-Rate erhöht.

Findet vom 12. bis 17. Juli in Berlin statt: der Weltkongress der Genetik.Lightbox-Link

Mitte Juli traf sich die Weltelite der Genomforschung in Berlin.

biotechnologie.de

hat ausführlich berichtet:



Teil I:

Eliteforschung zu Gast in Berlin
Teil II:

Genomforscher üben sich in Zurückhaltung
Teil III:

Wissensexplosion durch neue Technologien

In der Diskussion: Wie ungefährlich ist PID?

Darüber hinaus mehren sich unter Wissenschaftler die Zweifel, ob das Auffinden von abweichenden Chromosomensätzen tatsächlich ein Indiz für ‚nicht Schwangerschafts geeignete Embryos’ ist. „Wir überschätzen vermutlich die Zahl defekter Embryos“, so Robert Jansen, Direkter einer australischen IVF-Klinik, in Nature. Demnach haben Studien gezeigt, dass Embryos offenbar sowohl Zellen mit normalen als auch mit abweichenden Chromosomensätzen besitzen und sie im Laufe ihrer Entwicklung die Fähigkeit zur Selbstkorrektur haben. Jansen und viele andere Kliniken ziehen sich deshalb bereits aus derlei Screening-Verfahren zurück und auch die Europäische Gesellschaft für menschliche Reproduktion und Embryologie (ESHRE) diskutiert über die Aussagekraft eines solchen Verfahrens.

Ebenfalls unklar ist nämlich auch, ob das Verfahren der PID – bei dem am dritten Tag nach der Befruchtung dem Embryo eine ganze Zelle entnommen wird - tatsächlich ungefährlich für die spätere Entwicklung der Babies sind. Insbesondere neueste epigenetische Studien zeigen, dass das Erbgut in den Embryozellen unterschiedliche epigenetische Muster aufweist und die Entnahme einer ganzen solchen Zelle womöglich einen Einfluss auf die weitere Entwicklung haben kann. (2007, Nature, Vol. 445, S. 214-218) Noch gibt es allerdings keine aussagekräftigen Langzeitstudien darüber, natürlich auch, weil die meisten nach einer PID geborenen Kinder sich derzeit erst im Teenageralter befinden. Inzwischen gibt es aber Bestrebungen, auch seitens der ESHRE, solche Studien durchzuführen und ein freiwilligens Datensammelsystem aufzubauen.

 

News

Genom entschlüsseln: Noch kostet die komplette Sequenzierung eines Erbguts gut eine Million Dollar, doch dank rasanter technologischer Fortschritte scheint schon in fünf bis zehn Jahren eine Entschlüsslung für 1000 Dollar denkbar. Den damit zusammenhängenden Fragen geht der Bericht „Gendiagnostik in Deutschland“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) nach.

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Genetische Rasterfahndung: SNPs“ (ausgesprochen als „snips“) sind unter Wissenschaftlern derzeit in aller Munde – bei Fachleuten als single nucleotide polymorphisms bekannt. Hinter diesem Begriff verbergen sich winzige genetische Abweichungen im Erbgut, von deren Analyse sich Mediziner gezielte Hinweise auf Krankheiten erhoffen.

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Gentest empfohlen:
Im März hat die deutsche Zulassungsbehörde BfArM erstmals einen Gentest de facto als Pflicht empfohlen. Damit sollen HIV-Patienten vor einer Behandlung mit dem Wirkstoff Abacavir ausschließen, dass sie darauf lebensbedrohlich überreagieren.

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Forscherprofile

Sie wollen deutsche Genetiker besser kennenlernen? biotechnologie.de stellt einige von Ihnen ausführlicher vor:

Martin Hrabé de Angelis: Pendler zwischen den Welten mehr
Detlef Weigel: Preisgekrönter Entwicklungsbiologe auf immer neuen Abwegen mehr
Robert Schneider: Fasziniert von der Architektur des Erbguts mehr
Tobias Hartmann: Alzheimer aufhalten mehr
Rudi Balling: Immer über den Tellerrand mehr


Medizinische Biotechnologie

Sie wollen sich einen Einblick in die Welt der medizinischen Biotechnologie verschaffen? In unserer Video-Rubrik finden Sie eine ganze Reihe von Filmen zu medizinischen Themen.


Zur Rubrik Videos

Downloads

Präimplantation - ein Ländervergleich: Die aktuelle Situation hinsichtlich der gesetzlichen Regelung, der Anwendung und der gesellschaftlichen Diskussion in Belgien, Frankreich und Großbritannien

Autor: Prof. Dr. Irmgard Nippert, Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung; 2006 Download PDF (450,2 KB)