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Auf dem Weg zum genetischen Selbstporträt für jedermann

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Gendiagnostische Verfahren stehen im Mittelpunkt eines neuen Berichts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Quelle: Qiagen

07.09.2007  - 

US-Gentechnikpionier Craig Venter weiß es jetzt ganz genau und James Watson, der Entdecker der molekularen Struktur der Erbsubstanz, weiß es auch: Beide Wissenschaftler haben ihr Erbgut komplett entziffern lassen, Venter hat es sogar vollständig veröffentlicht. Für alle Welt sichtbar, ist nun bekannt, dass der Forscher rund 300 krankheitsrelevante Gene in sich trägt. Ob solch ein Gencheck demnächst auch für jedermann möglich ist? Noch kostet eine Sequenzierung gut eine Million Dollar, doch dank rasanter technologischer Fortschritte scheint schon in fünf bis zehn Jahren eine Entschlüsslung für 1000 Dollar denkbar. Den damit zusammenhängenden Fragen geht der neueste Bericht „Gendiagnostik in Deutschland“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) nach.

Das genetische Selbstporträt der Wissenschaftler ist nicht nur eitle Spielerei: Die entzifferten Sequenzen individueller Genome zeigen, dass die genetischen Unterschiede zwischen zwei Menschen doch größer sind als gedacht. Wie Venter und seine kanadischen Kollegen im Fachmagazin PLos Biology (2007, 4. September) berichten, gibt es statt 99,9 Prozent höchstens rund 99,1 oder 99,5 Prozent Übereinstimmung. Die Variation ist damit fünfmal größer, als bislang angenommen.

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Die komplette Entschlüsslung des menschlichen Genoms wurde 1990 unter dem Dach des öffentlich finanzierten internationalen Human Genome Projekt in Angriff genommen. 1000 Wissenschaftler aus 40 Ländern waren daran beteiligt,  1998 bekam das Projekt Konkurrenz durch die Firma Celera des US-Forschers Craig Venter. Beide Vorhaben verwandten unterschiedliche Genom-Versionen, die jeweils die genetischen Informationen von mehreren Menschen enthalten haben.

BBAW legt Bericht "Gendiagnostik in Deutschland" vor

Wird bald auch dem Durchschnittsbürger die Information offen stehen, die Venter jetzt über sich hat? Insgesamt 300 krankheitsrelevante Gene wurden im Genom des Wissenschaftlers Venter aufgespürt, darunter unter anderem für Herzinfarkt. Da sein Vater mit 59 Jahren an eben dieser Krankheit gestorben ist, nimmt der Forscher nach eigener Aussage jetzt cholesterinsenkende Medikamente.

Passend zur aktuellen Veröffentlichung stellte die BBAW nun ihren neuesten Bericht zur  „Gendiagnostik in Deutschland“ am 4. September in Berlin der Öffentlichkeit vor. Demnach können derzeit theoretisch etwa 3300 Krankheiten, für die das Vorhandensein einer bestimmten Genvariante im Menschen als typisch identifiziert wurde, mit gendiagnostischen Verfahren aufgespürt werden. „Im Zentrum unserer Arbeit standen zwei Fragen“, sagte der Humangenetiker Jörg Schmidtke von der Medizinischen Hochschule Hannover und Mitherausgeeber des BBAW-Berichts. „Bekommen die Menschen die Gentests, die sie benötigen? Und benötigen sie die Gentests, die sie bekommen?“

Breiter Überblick: Vom Stand der Technik über Gesetzgebung bis hin zur Ethik

Der Bericht zur Gendiagnostik versucht, die aktuelle Situation in Deutschland von den verschiedensten Seiten zu beleuchten: Vom Stand von Technik und Gesetzgebung über Anwendungen in der polizeilichen Ermittlungsarbeit, dem Für und Wider der Präimplantationsdiagnostik bis hin zu gesundheitsökonomischen und ethischen Diskussionen. Die Aufsätze und Daten aktualisieren das Kapitel zur molekularen Diagnostik aus dem ersten deutschen Gentechnologiebericht der BBAW aus dem Jahr 2005.

Mehr Informationen: www.gentechnologiebericht.de

Aus Sicht der Autoren wird künftig vor allem der klinische Nutzen genetischer Tests im Zentrum der Diskussionen stehen. Ihre Hauptforderung: Die Einführung von europäischen und nationalen Standards zur Sicherung der Qualität bei der Durchführung von gendiagnostischen Verfahren. Nach Meinung der Wissenschaftler ist hier – gerade angesichts des rasanten technischen Fortschritts – eine Konzentration auf klinisch-genetische Zentren erforderlich, um eine hohe Qualität solcher Tests zu gewährleisten.

Mit SNP-Analysen wollen Forscher erstmals tatsächlich die genetischen Ursachen von Krankheiten entschlüsseln.Lightbox-Link
Mit SNP-Analysen wollen Forscher erstmals tatsächlich die genetischen Ursachen von Krankheiten entschlüsseln.Quelle: NGFN
In Deutschland hat sich unter dem Dach des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) ein großes Konsortium gebildet, das seit Herbst 2006 auf der Basis von SNPs (Single nucleotide polymorphisms) eine der größten genetischen Assoziationsstudien mit 25.000 beteiligten Patienten gestartet hat und erste Ergebnisse bis zum Ende diesen Jahres veröffentlichen will. Damit sollen genetische Anlagen für Krankheiten genauer bestimmt werden. Mehr

Für viele Krankheiten lohne sich nämlich der Blick in die Gene bislang kaum. „Über den Beitrag genetischer Faktoren zu den großen Volkskrankheiten haben wir derzeit noch recht dürftige Erkenntnisse“, betonte Humangenetiker Schmidtke und verwies auch darauf, dass die derzeit fast täglich publizierten neuen Erkenntnisse aus genomweiten Assoziationsstudien (SNP-Studien) oft genetische Zusammenhänge für große Krankheiten wie Diabetes oder Herzinfarkt identifizieren, deren Aussagekraft für klinische Zwecke aber noch nicht erwiesen ist und erst der Überprüfung und Validierung bedürfen.

Anders sieht es bei Krankheiten aus, für die tatsächlich ein einzelnes Gen als ursächlich identifiziert wurde. Heute sind derzeit laut BBAW-Bericht (Stand Januar 2007) rund 2002 Gene für monogenetische Krankheiten bekannt, die mehrheitlich von US-Wissenschaftlern entdeckt wurden. In den Jahren 2000 bis 2006 waren deutsche Forscher zu neun Prozent an der Identifizierung beteiligt – allerdings mit steigender Tendenz. Die Mehrheit der Forschungsvorhaben wurde dabei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziert.

Beurteilung der Sinnhaftigkeit von Gentests oft schwierig

Ob ein Gentest sinnvoll ist oder nicht - diese Frage ist nicht pauschal zu beantworten, so Schmidtke. Wenn bereits eine diagnostizierte Krankheit vorliegt und nur festgestellt werden soll, ob es eine genetische Ursache gibt, dann sei die Entscheidung pro oder contra Gentests schwierig. „Wenn sich dadurch Therapieoptionen ergeben, dann macht eine solche Diagnostik unter ärztlicher Aufsicht Sinn. Wenn es nur um das reine Wissen geht, ist es bereits schwieriger zu beurteilen“, erläutert Schmidtke. Noch problematischer wird es, wenn sich gesunde Menschen auf ‚mögliche’ Krankheiten testen lassen wollen. Hierbei sind vor allem psychologische Belastungen zu beachten sowie die Tatsache, dass nicht für jede identifizierte Krankheit auch die passende Therapie zur Verfügung steht. Um den klinischen Nutzen aktueller Tests zu beurteilen und Ärzten den Umgang mit solche Entscheidungenzu erleichtern, erarbeitet die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik derzeit Leitlinien für die 50 bis 100 häufigsten Gentests. Zwölf von ihnen sind bereits erstellt und auf der Webseite abrufbar: www.gfhev.de

Playdoyer für Präimplanatatiosdiagnostik

Kritisch diskutiert wird im BBAW-Bericht die Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der nach einer In-Vitro-Befruchtung Embryonen vor der Einpflanzung in den Mutterleib untersucht werden. Karl Sperling, Humangenetiker an der Charité, plädiert in seinem Beitrag für den Bericht dafür, die PID auch in Deutschland nach dem Vorbild zahlreicher europäischer Staaten an wenigen Zentren und für genau definierte Zwecke zuzulassen. Dass eine solche Untersuchung nicht zu einer unkontrollierten Ausweitung führt – wie oft befürchtet wird - , hatte im Jahr 2006 die Medizinsoziologin Irmgard Nippert im Rahmen eines Gutachtens für die Friedrich-Ebert-Stiftung belegen können. Dafür wurden Behandlungszahlen aus Belgien, Frankreich und Großbritannien ausgewertet sowie Experteninterviews durchgeführt. (Mehr Informationen: Studie als Download) Anderseits hatten niederländische Wissenschaftler im Juli im Fachmagazin New England Journal of Medicine (NEJM) berichtet (2007, Vol. 357, S. 9), dass die PID offenbar nicht die sogenannte ‚Baby-Take-Home’-Rate erhöht – wie bislang stets vermutet wurde.

Diagnostik-Branche im UmbruchLightbox-Link

Diagnostik-Branche im Umbruch: In den vergangenen 15 Monaten wechselte rund ein Sechstel der Diagnostika-Industrie den Besitzer. Für Schlagzeilen sorgten vor allem der Kauf von Dade Behring durch Siemens sowie die geplante Übernahme von Ventana durch Roche. Die molekulare Diagnostik spielt in der gesamten Branche (Marktwert: rund 32 Mrd. Dollar) noch eine kleine Rolle, doch ihre Anteile wachsen. Neben Marktführer Roche ist das deutsch-niederländische Biotech-Unternehmen Qiagen, das sich im Juli mit der US-Firma Digene verstärkte, der zweitgrößte Anbieter auf diesem Gebiet.

Der BBAW-Bericht geht auch auf die gesundheitsökonomische Debatte der Gendiagnostik ein – also wie sich Kosten und Nutzen solcher Tests abwägen lassen, insbesondere wenn sie als Standardvorsorgeprogramm implentiert werden sollen. Diese Art von Betrachtung scheint jedoch äußerst schwierig zu sein. So gibt es beispielsweise kaum wissenschaftliche Ergebnisse zur Wirtschaftlichkeit von bevölkerungsweiten Screeningprogrammen. Die wenigen existenten Studien zeigen zudem, dass oftmals phänotypische Tests ebenso wirksam und bei weitem kostengünstiger sind. Dies betont auch Schmidtke: „Ob jemand zum Beispiel eine Veranlagung zu erhöhten Blutfettwerten hat, erkennt er eher beim Blick auf die Krankengeschichten der Großeltern, Eltern, Onkels und Tanten.“

Gendiagnostik-Gesetz in der Diskussion

Unklar ist derzeit noch, welche Neuregelungen im geplanten Gendiagnostik-Gesetz umgesetzt werden. Im Mai hatte der Bundestag über einen aktuellen Entwurf diskutiert, der von den Grünen eingebracht wurde und sich derzeit zur Diskussion in den Ausschüssen befindet. (Mehr Informationen: Entwurf als Download) Dass eine solche Gesetzunggebung notwendig ist, davon sind die Autoren Jürgen Simon und Jürgen Robienski (beide Universität Lüneburg) im BBAW-Bericht überzeugt. Schließlich befinden sich derzeit Regelungen, die die genetische Diagnostik betreffen, in einer Vielzahl verschiedener Gesetze: Datenschutzgesetze, Berufsordnung der Ärzte, Krebsregistergesetze, Strafgesetzbuch, Transfusionsgesetz, Transplantationsgesetz, Stammzellgesetz, Embryonenschutzgesetzt, Krankenhausgesetz.

Der 2006 eingebrachte Entwurf rückt vor allem das hohe Schutzniveau des Einzelnen angesichts der Sensibilität der Daten bei gleichzeitiger Gewährleistung der Forschung in den Mittelpunkt. Geregelt werden soll prä- und postnatale Gendiagnostik – aber nicht die PID – sowie genetische Untersuchungen im Rahmen von Strafverfahren, im Versicherungsbereich, bei Abstammungsfragen, zu medizinischen und zu wissenschaftlichen Zwecken. "Eine solche Regelung würde bestehende Unsicherheiten beim Einsatz der Gendiagnostik auflösen", heißt es im BBAW-Bericht. Allerdings wird eine Erweiterung für Forscher gefordert, was die Nutzung der Daten aus genetischen Diagnosen sowie die Einrichtung von Biobanken betrifft.

 

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Downloads

Entwurf eines Gesetzes über genetische Untersuchungen beim Menschen (Gendiagnostikgesetz - GenDG)

Drucksache des Deutschen Bundestages, 3.11. 2006 Download PDF (788,5 KB)

Präimplantation - ein Ländervergleich: Die aktuelle Situation hinsichtlich der gesetzlichen Regelung, der Anwendung und der gesellschaftlichen Diskussion in Belgien, Frankreich und Großbritannien

Autor: Prof. Dr. Irmgard Nippert, Gutachten im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung; 2006 Download PDF (450,2 KB)