Bundestag erleichtert Stammzellforschung: Stichtag verschoben
11.04.2008 -
Eine der schärfsten Debatten der letzten Monate ist nun entschieden: Die Auflagen für Forscher, die an embryonalen Stammzellen arbeiten wollen, werden künftig deutlich geringer ausfallen. Am 11. April haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine Verschiebung des Stichtages auf den 1. Mai 2007 beschlossen. Damit stehen den Wissenschaftlern in Deutschland statt der bisherigen 21 Stammzelllinien rund 500 zur Verfügung. In namentlicher Abstimmung votierte eine klare Mehrheit von 346 Abgeordneten für diese Änderung. Dagegen stimmten 228 Parlamentarier, sechs enthielten sich. „Die Ausweitung ist verantwortbar, um Wissenschaftlern in einem schmalen Korridor die Forschung mit jüngeren, embryonalen Stammzellen zu ermöglichen“, sagte Bundesforschungsministerin Annette Schavan.
Nach monatelanger Auseindersetzung, in der die Wellen zwischenzeitlich ziemlich hoch schlugen und zu Fronten in allen Parteien führte, haben sich die Abgeordneten im Deutschen Bundestag nun auf eine Änderung des Stammzellgesetzes geeinigt. Während Wissenschaftler in Deutschland bislang nur auf embryonale Stammzellen zugreifen konnten, die bis zum 1. Januar 2002 hergestellt worden waren, wurde der Stichtag jetzt um mehr als fünf Jahre nach vorn verschoben.
Hintergrund: Seit Monaten diskutieren Gegner und Befürworter der Stammzellforschung miteinander. Die letzte Debatte im Bundestag fand am 14. Februar statt und war sehr emotional geprägt. mehr |
Mit klarer Mehrheit haben sich die Abgeordneten für den 1. Mai 2007 als neuen Stichtag ausgesprochen. Dafür stimmten 346 von 580 anwesenden Abgeordneten. 228 stimmten mit Nein, sechs enthielten sich. Damit stehen der Wissenschaft künftig rund 500 statt der bisher rund 20 Stammzelllinien für Forschungszwecke zur Verfügung. Wie bisher auch müssen derartige Projekte beim Robert-Koch-Institut und der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung genehmigt werden. (Übersicht aller bisherigen Anträge: hier klicken).
Embryonale Stammzellen... |
... können sich in nahezu alle menschlichen Zelltypen verwandeln. Gewonnen werden sie aus Embryonen zwischen dem vierten und siebten Tag nach der Befruchtung der Eizelle. |
Die Entscheidung fiel, nachdem zwei Anträge mit Extrempositionen keine klare Mehrheit erhalten hatten. Für den Antrag von Ulrike Flach (FDP), Katharina Reiche (CDU) und Ralf Stöckel (SPD) zur völligen Abschaffung des Stichtages votierten nur 126 Abgeordnete. 443 stimmten mit Nein, zehn enthielte sich. Wenig Zustimmung fand auch der Antrag von Hubert Hüppe (CDU) und Marie-Luise Dött (CDU), die die Forschung mit embryonalen Stammzellen komplett verbieten wollten. Hierfür stimmten 118 Abgeordnete mit Ja, 442 mit Nein, 16 enthielten sich.
Adulte Stammzellen... |
... kommen im erwachsenen Körper vor. Sie sind für die Regeneration des Organs zuständig, in dem sie angesiedelt sind. Ihr Entwicklungspotenzial ist deshalb beschränkt. |
Mit dem angenommenen Antrag, der auf eine Initiative der Abgeordneten René Röspel (SPD), Jörg Tauss (SPD) und Ilse Aigner (CSU) zurückgeht, wurde auch klargestellt, dass deutsche Wissenschaftler sich nicht mehr strafbar machen, wenn sie sich an internationalen Stammzellen-Forschungsprojekten beteiligen. „Die Ausweitung ist verantwortbar, um Wissenschaftlern in einem schmalen Korridor die Forschung mit jüngeren, embryonalen Stammzellen zu ermöglichen“, sagte Bundesforschungsministerin Annette Schavan (CDU) in zweistündigen Debatte im Bundestag. Parteikollegin Maria Böhmer warnte dagegen vor einem "Dammbruch beim Embryonenschutz", wenn der Stichtag verschoben würde, nur weil die Forschung dies fordere. Schon seit 2006 setzt sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft für eine Änderung der Regelungen ein, weil sie fürchtet, dass deutsche Wissenschaftler ins Hintertreffen geraten (mehr...).
"Dass die Gegner der Stammzellforschung die bisher fehlenden Therapien den Forschern zum Vorwurf machen, ist absurd“, hatte der langjährige DFG-Präsident Ernst-Ludwig Winnacker, jetzt Geschäftsführer des European Research Council, in der ZEIT plädiert. „Was würden unsere Kritiker sagen, wenn man Stammzellen voreilig eingesetzt hätte, um dann einen Rückschlag zu erleiden? Und hat man denn völlig vergessen, wie lange die Entwicklung »normaler« Arzneimittel heute dauert?“ (Zum vollständigen Statement in DIE ZEIT, Februar 2008: hier klicken) Die Stichtagsverschiebung wird in der Wissenschaft und Biotechnologie-Industrie mehrheitlich begrüßt. Noch am Tag zuvor sprach sich der Branchenverband BIO Deutschland für eine Änderung des Stammzellgesetzes aus (mehr....)
Kritik kam hingegen aus den Reihen der Kirchen. "Ich kann nicht Menschen töten, um anderen Menschen zu helfen", sagte der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, im Deutschlandfunk. Er hatte ein Verbot der Stammzellforschung verlangt.
Inwieweit die neue Regelung die Stammzellforschung in Deutschland tatsächlich verändern wird, ist noch ungewiss. Insbesondere seit japanische Forscher Ansätze zur Reprogrammierung erwachsener ausgereifter Zellen vorgestellt haben (mehr...).
Hier noch einmal alle Positionen im Überblick in der Reihenfolge ihrer Abstimmung:
1) Initiatoren: Ulrike Flach (FDP), Katharina Reiche (CDU), Ralf Stöckel (SPD)
Forderung: Der Stichtag für die Einführung und Verwendung von embryonalen Stammzelllinien wird gestrichen und damit der Anwendungsbereich der Stammzellforschung erweitert. Die Strafbewehrung entfällt dadurch.
Gesetzentwurf: Drucksache 16/7982 als PDF-Download
Abstimmungsergebnis: 126 Ja-Stimmen, 443 Nein-Stimmen, 10 Enthaltungen
2) Initiatoren: Hubert Hüppe (CDU), Marie-Luise Dött (CDU)
Forderung: Das Stammzellgesetz wird so geändert, dass die Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen nicht mehr zulässig ist.
Gesetzentwurf: Drucksache 16/7983 als PDF-Download
Abstimmungsergebnis: 118 Ja-Stimmen, 442 Nein-Stimmen, 16 Enthaltungen
3) Initiatoren: René Röspel (SPD), Ilse Aigner (CSU), Jörg Tauss (SPD)
Forderung: Der Stichtag wird einmalig auf den 1. Mai 2007 verschoben und somit an neue wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst, ohne dass die Grundausrichtung des Gesetzes verändert wird. Auf diese Weise bleibt der Schutzmechanismus des Stammzellgesetzes erhalten und es bleibt gewährleistet, dass von Deutschland aus nicht die Gewinnung embryonaler Stammzellen oder eine Erzeugung von Embryonen zu diesem Zweck veranlasst wird. Angesichts der Probleme im Zusammenspiel von Strafrechtsdogmatik und Stammzellgesetz ist durch eine Änderung der §§ 2 und 13 StZG eine Klarstellung des Anwendungsbereichs des Stammzellgesetzes auf das Inland vorzunehmen. Hierdurch werden Unsicherheiten im Hinblick auf die Reichweite der Regelung des Stammzellgesetzes beseitigt und es wird dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen.
Gesetzentwurf: Drucksache 16/7981 als PDF-Download
Abstimmungsergebnis: 346 Ja-Stimmen, 228 Nein-Stimmen, 6 Enthaltungen - in Zweiter Lesung angenommen, in Dritter Lesung (Schlussabstimmung mit Handzeichen) angenommen
Folgende Anträge sind entfallen:
1) Initiatoren: Priska Hinz (Die Grünen), Julia Klöckner (CDU), Herta Däubler-Gmelin (SDP)
Forderung: Hinsichtlich der Verwendung von embryonaler Stammzellen wird der Anwendungsbereich des Gesetzes auf solche Stammzellen beschränkt, die sich im Inland befinden (§ 2 StZG), und die Strafbarkeitsbestimmung (§13 StZG) entsprechend beschränkt. Damit können die beschriebenen Unsicherheiten und Problemfälle künftig nicht mehr auftreten.
Gesetzentwurf: Drucksache 16/7984 als PDF-Download
Forderung: Mit Blick auf die im Gesetz verfolgten Schutzzwecke – Schutzrechte für Embryonen und für Paare, die Embryonen im Ausland für die Stammzellforschung zur
Verfügung stellen, Freiheitsrechte für die Forschung sowie Anspruchsrechte von Patienten – liegen seit der Debatte um das Stammzellgesetz in den Jahren 2001/2002 keine überzeugenden neuen wissenschaftlichen, rechtlichen oder ethischen Argumente vor, die eine Änderung des Stammzellgesetzes und des Stichtages begründen.
Gruppenantrag: Drucksache 16/7985 als PDF-Download