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Personalisierte Medizin: Zu hohe Erwartungen dämpfen

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Experten im Gespräch (v.l.): Karl Sperling, Hans-Hilger Ropers, BBAW-Präsident Günter Stock. Quelle: biotechnologie.de

08.09.2011  - 

Kein Mensch gleicht dem anderen. Mittlerweile wird immer klarer, dass sich die Individualität bis unter die Haut fortsetzt, von der Zusammensetzung der Bakterien bis hin zur Art der Rezeptoren, die auf Tumorzellen vorhanden sind. Dieser Individualität soll in der Medizin nun mit maßgeschneiderten Medikamenten und Behandlungsmethoden Rechnung getragen werden. Die „Individualisierte Medizin“ ist in aller Munde. Versprechungen und Realität klaffen dabei jedoch oft weit auseinander. Im Rahmen des Wissenschaftsjahres Gesundheit sprachen am 5. September in Berlin zwei Altmeister der Genetik darüber, was die Forschung bisher über die Rolle der Gene bei Krankheiten herausgefunden hat, und was das für Diagnose und Therapie der Zukunft bedeuten könnte.


 

Es ist eine Binsenweisheit, die Mediziner in jüngster Zeit aber erst wieder entdecken mussten: Jeder Mensch ist anders. Medikamente, die bei manchen wirken, springen bei anderen überhaupt nicht an. Der Grund liegt oft genug in den Genen und der daraus resultierenden leicht veränderten Beschaffenheit von Zellen, Stoffwechsel und Organen. Alle großen Pharmaunternehmen arbeiten mittlerweile an neuen, maßgeschneiderten Medikamenten, die auf diese Unterschiede eingehen. Und einige Medikamente werden bereits heute nur an solche Patienten gegeben, die zuvor per Gentest daraufhin getestet wurden, ob die entsprechende Therapie bei ihnen auch wirken kann - vor allem in der Krebsmedizin. Dazu gehört beispielsweise das Brustkrebs-Medikament Herceptin von Roche. (Eine Übersicht zu Wirkstoff/Gentest-Kombinationen auf dem Markt gibt es beim Verband der forschenden Arzneimittelhersteller: hier klicken)

„Eine individualisierte Medizin, wie sie oft angekündigt wird, wird es in Reinform gar nicht geben“, stellte jedoch Karl Sperling gleich zu Beginn seines Vortrags im großen Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) fest, die zu der Veranstaltung geladen hatte. Den Beweis brachte der vormalige Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Humangenetik der Berliner Charité gleich auch noch vor: seine Frau. Die behauptet, dass ihre Gesundheit unter der angeblichen Unordentlichkeit des Molekulargenetikers leidet. „Nun sind wir seit 48 Jahren verheiratet, und doch kann ich nicht sagen, ob das tatsächlich stimmt“, sagte Sperling. Um medizinische Aussagen über Krankheitsfaktoren zu treffen, brauche es immer eine ganze Menge an Vergleichsdaten.

Gut hundert Besucher kamen in den Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, um sich über Personalisierte Medizin zu informieren. Lightbox-Link
Gut hundert Besucher kamen in den Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, um sich über Personalisierte Medizin zu informieren. Quelle: biotechnologie.de

Keine Medizin für jeden Einzelnen

Der Einzelfall sage nichts aus. „Wenn ich nun mit zwölf Frauen jeweils vier Jahre verheiratet gewesen wäre, könnte ich anfangen, einen eventuellen Trend zu extrapolieren, ob meine Unordnung einen langfristigen Einfluss auf die Gesundheit hat“, so Sperling. Für einigermaßen gesicherte Aussagen brauche es aber Stichproben mit Tausenden und Millionen Teilnehmern. Individuell ist etwas anderes. Auch wenn es keine auf jeden Einzelnen genau zugeschnittene Medizin geben kann, können das Wissen über bestimmte Genvarianten doch helfen, Medikamente besser zu dosieren und nur dann zu verabreichen, wenn sie auch wirken.

„In der Krebsmedizin könnte die Beachtung der genetischen Ausstattung einige Fortschritte bringen“, vermutet Sperling. Als Paradebeispiel nannte er das Krebsgenomprojekt, bei dem Forscher auf der ganzen Welt an einem Genomkatalog der 50 häufigsten Krebsarten arbeiten (mehr...). Nicht nur bei diesem Projekt werden gewaltige Datenmengen anfallen, ein weiteres Kennzeichen der Personalisierten Medizin. „Millionen von Gewebe- und Zellproben von den verschiedensten Menschen müssen angelegt werden“, so Sperling. Biobanken, in denen die Proben und die dazugehörigen Daten eingesammelt werden, seien das „Gold des 21. Jahrhunderts“. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im April diesen Jahres die "Nationale Biobanken Initiative" gestartet, um Deutschland Ressourcen auf diesem Gebiet zu bündeln (mehr...).

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Das ganze Gold sinnvoll einzusetzen, das ist aber gar nicht so leicht, wie Hans-Hilger Ropers im Anschluss feststellte. Der Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik trat an, um zu hoch gesteckte Erwartungen  des Publikums an die Personalisierte Medizin zu dämpfen. „Warum sind die Leute enttäuscht“, fragte Ropers und wies etwa auf Artikel wie „Das große Versprechen“ hin, der jüngst im Nachrichtenmagazin Spiegel erschienen ist. (zum Artikel: hier klicken)

Viele genetische Risikofaktoren haben keine medizinische Aussagekraft

„Tatsächlich kann das Versprechen, Volkskrankheiten mit genetisch zugeschnittenen Medikamenten heilen zu wollen, nicht gehalten werden“ sagte Ropers. Bis zum Jahr 2010 seien in wissenschaftlichen Veröffentlichungen rund 850 DNA-Veränderungen vorgestellt worden, die mit Krankheiten in Verbindung gebracht werden. Nur 200 von ihnen hätten von anderen Forschern bestätigt werden können. Und „die allermeisten dieser Faktoren haben nur einen minimalen Einfluss auf das Erkrankungsrisiko und keine diagnostische Bedeutung.“ Das heißt, mit einem Gentest kann man bisher nur sehr wenig über das persönliche Risiko für häufige Malaisen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rheuma oder Diabetes erfahren. "Die Suche nach genetischen Markern für häufige Krankheiten ist meist erfolglos“, stellte Ropers fest. Zu komplex sei bei diesen Leiden das Zusammenspiel von hunderten von beteiligten Genen, zu groß sei neben der Rolle der Gene der Einfluss von individuellem Verhalten, Umwelt und Ernährung.

Die Personalisierte Medizin müsse sich auf Krankheiten beschränken, die tatsächlich von einigen wenigen Genveränderungen maßgeblich verursacht werden. Das einzige Problem dabei: Jeder Mensch unterscheidet sich von Natur aus an ungefähr drei Millionen Stellen seiner DNA von den Mitmenschen. Die Suche nach krankheitsrelevanten oder pathogenen Veränderungen ist deshalb recht aufwendig. Doch die komplette persönliche Gensequenzierung wird bald kommen, da sind sich die Genetik inzwischen einig.  „Im Augenblick sind wir bei 4000 Euro, und der Preis fällt weiterhin stark“, so Ropers. 

Die 41. Folge von biotechnologie.tv ist eine Sondersendung zur Humangenomforschung.Quelle: biotechnologie.tv

Wirbel um Bluttest für Trisomie 21

In der Forschung geht es zudem rasant voran. So versuchen Berliner Max-Planck-Forscher mit Kollegen der Charité derzeit eine personalisierte Krebstherapie zu entwickeln. Die Ausgründung Alacris GmbH hat erst Anfang des Jahres eine Finanzspritze vom größten deutschen Biotech-Unternehmen Qiagen erhalten, das sich schon seit langem die Personalisierte Medizin auf die Fahnen geschrieben hat (mehr...).

Bald werden viele Menschen ihr Genom auslesen lassen, glaubt auch Ropers. Er sagt aber auch: „Über die Konsequenzen müssen wir alle diskutieren." Auch über den in jüngster Zeit viel diskutierten Bluttest der Biotechnologiefirma GATC, der es künftig erlauben wird, ungeborene Kinder anhand einer Blutprobe der Mutter auf Trisomie 21 hin zu überprüfen (mehr...). Eine gefährliche Punktion wäre damit nicht mehr notwendig. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Hubert Hüppe (CDU) hatte das BMBF kritisiert, weil es die Entwicklung des Tests mit einer Förderung unterstützt hat. „Die Kritik an dem Test und der Förderung der Entwicklung durch das BMBF kann ich so nicht stehen lassen“, betonte Ropers vor den rund 100 Konferenzteilnehmern in Berlin. Der Test habe auf jeden Fall nichts mit Eugenik zu tun, wie einige Stimmen behauptet hätten, versicherte Ropers.

In der Praxis zeigt sich zudem: Die Mehrheit der Deutschen steht der Sammlung von genetischen Daten, die das Zeitalter der Personalisierten Medizin mit sich bringt, offenbar auch gar nicht so kritisch gegenüber, wie das die öffentliche Diskussion manchmal vermuten lässt.So meldete sich in der abschließenden Diskussion auch ein Arzt der Charité zu Wort und berichtete darüber, dass das Krankenhaus jeden Patienten vor einer Operation fragt, ob entnommene Gewebeschnitte genetisch ausgewertet werden dürfen. „Bei den ersten 4000 Erklärungen gab es ganze drei Ablehnungen“, so der Arzt und schlussfolgerte daraus: „Die Bereitschaft der Bevölkerung ist da.“

© biotechnologie.de/cm

 

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