Molekularer Tango in der Nasenschleimhaut
14.12.2011 -
Die Geruchswahrnehmung ist wie ein Tanz. Was für Angestellte in Reinigungsfirmen und Fischfabriken vermutlich wie ein schlechter Witz klingt, ist für die Forscher an der Ruhr-Universität Bochum ein wissenschaftlicher Durchbruch: Sie haben die dynamische dreidimensionale Struktur der Riechrezeptoren aufgeklärt und damit herausgefunden, wie die Nase verschiedene Düfte auseinander hält. Mit dem Bild eines „molekularen Tangos“ hat es das Team auf die Titelseite des Fachmagazins Angewandte Chemie (2011, Online Vorabveröffentlichung) geschafft.
Die Zahl der Gerüche, die wir wahrnehmen können, ist begrenzt: Die Nase besitzt ungefähr 350 Riechrezeptoren, die jeder nur auf einen oder wenige Düfte ansprechen. Wie der Bochumer Riechforscher Hanns Hatt herausfand, findet sich ein Teil dieser Rezeptoren auch in anderen Organen, beispielsweise im Darm oder sogar an den Spermien.
Mehr zum Thema auf biotechnologie.de |
Menschen: Hanns Hatt: Nicht nur mit der Nase riechen Menschen: Wolfgang Meyerhof: Salzig essen ohne Salz Förderung: Das kindliche Aroma entschlüsseln |
Denn biologisch gesehen ist das Riechen ein chemischer Vorgang. Das Veilchenmolekül trifft in der Nase auf einen Rezeptor, der ein entsprechendes Signal an das Gehirn weiterleitet: Wir erhalten einen Impuls, den wir kognitiv mit den blauen Blumen assoziieren. Die gleichen Rezeptoren gibt es auch in den Prostatazellen, dort hemmt der ausgelöste chemische Impuls allerdings das Zellwachstum (mehr...). Nur eins blieb bisher ungeklärt: Warum spricht ein Rezeptor beispielsweise auf Aprikosenduft an, während der ähnlich süßliche Papayaduft vollständig ignoriert wird?
Zahl der molekularen Kontakte entscheidend für Aktivierung
Um das heraus zu finden, erstellte die interdisziplinäre Arbeitsgruppe um Hatt und die Biophysiker Steffen Wolf und Klaus Gerwert ein Computermodell des Rezeptors für Aprikosenduft, und veränderte im Modell verschiedene Aminosäuren in der Bindetasche des Rezeptorproteins. Auf diese Weise konnten sie herausfinden, welche Bausteine des Rezeptormoleküls für seine Funktion essentiell sind – und wie er sich theoretisch auf einen anderen Duft umpolen lässt.
In Folge 86 von biotechnologie.tv erklärt Hanns Hatt bei der Duftausstellung in Bochum, wie Riechen funktioniert.Quelle: biotechnologie.tv
Die genaue Analyse in molekulardynamischen Simulationen zeigte nämlich, dass die Bindung zwischen Duftstoff und Rezeptor ein komplexer Prozess ist. Während der Duftstoff am Rezeptorprotein andockt bilden sich zwischen beiden chemische Bindungen, Wasserstoffbrücken, die sich nach einem bestimmten Muster aufbauen und wieder trennen. „Es ist wie beim Tango, wenn die Tänzerin sich immer wieder von ihrem Partner löst und an anderer Stelle mit ihm trifft“ beschreibt Gerwert poetisch. „Der Rezeptor nutzt das dynamische Wasserstoffbrückenmuster, um aktivierende von nicht aktivierenden Düften zu unterscheiden.“
Suche nach dem Super-Riecher
Das Forscherteam charakterisierte so, wie viele molekulare Kontakte zwischen Duftstoff und Rezeptor erforderlich sind, damit das Gehirn etwas „riecht“ beziehungweise die Chemorezeptoren aktiviert werden. Um im Bild zu bleiben: Ein Tango kodiert für Aprikosenduft, ändert sich das Schema zum Foxtrott, reagiert der Chemorezeptor für Papaya. Den Tangorezeptor lässt der Foxtrott unbeeindruckt – vorerst. Denn den Forschern gelang es auch, einen Riechrezeptor gezielt auf einen bestimmten Duft hin zu manipulieren. Mit dem Wissen um die nötige Anzahl molekularer Kontakte konnten sie ein Rezeptorprotein so umpolen, dass es mit Papaya- statt Aprikosenduft aktiviert wird. „Die Erkenntnisse können helfen, gezielt Super-Riechsensoren für einen definierten Duft zu erzeugen“, sagt Hatt. „Da Riechrezeptoren nicht nur in der Nase, sondern in vielen anderen Geweben vorkommen, könnte man daraus neue therapeutische Ansätze entwickeln.“
Während Hatt das Potenzial der Bochumer Erkenntnisse vor allem jenseits des Gehirns in den Chemorezeptoren bestimmter innerer Organe sieht, hat ein internationales Forscherteam unter Beteiligung der Universität Tübingen sowie der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung mit Hilfe von 3D-Rekonstruktionen belegt, dass der Geruchssinn auch in der Evolution eine entscheidende Rolle gespielt hat. Wie sie in der Fachzeitschrift Nature Communications (2011, Online-Vorabveröffentlichung) berichten, ist das Riechzentrum bei Homo sapiens sapiens weitaus größer als beim Neandertaler, ebenso wie die damit verknüpften Hirnregionen für Sprachfähigkeit, Gedächtnis und Sozialverhalten. Der komplexe Tanz der Wasserstoffbrücken im Riechrezeptor war offenbar auch entscheidend für die Entwicklung höherer Intelligenz.
©biotechnologie.de/ck