Glykobiotechnologie: Wenn Wissenschaft auf Zucker setzt
16.10.2007 -
Man stelle sich ein Haus ohne Adresse und Hausnummer, einen Fernseher ohne Antenne oder ein Radio ohne Empfang vor. Ohne biologisch aktive Zuckerstrukturen erginge es Zellen sowie Eiweiß- und Fettmolekülen im Körper ganz ähnlich – Zellen könnten untereinander keine Informationen austauschen, viele Eiweiß- oder Fettmoleküle wären ihrer biologischen Funktion beraubt. Für wirtschaftlich bedeutende Industriezweige wie die Arzneimittelindustrie oder die Lebensmittelbranche birgt die Zuckerforschung daher ein großes Potenzial, vor allem im Zusammenspiel mit der Biotechnologie. Darauf setzt auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem Arbeitsgruppenwettbewerb Glykobiotechnologie.
Hinter dem Begriff Zucker, den wir normalerweise verwenden, verbirgt sich für den Wissenschaftler die Welt der Kohlenhydrate – für die sich Chemiker, Biologen, Biochemiker, aber auch Mediziner und Physiker interessieren. Kohlenhydrate sind noch vor den Eiweißen und Nukleinsäuren die größte Substanzklasse innerhalb der Biomoleküle. Sie stellen als energieliefernde Zucker (Traubenzucker, Milchzucker) sowie als Ballaststoffe (Pektin, Zellulose) einen großen Anteil in unserer Nahrung dar, spielen als Stützsubstanz (Zellulose, Chitin) im Pflanzen- und Tierreich eine wichtige Rolle und übernehmen wichtige Funktionen als Energiespeicher (Stärke). Zudem sind Kohlenhydrate Bestandteil des Grundgerüsts von Erbmolekülen, den Hauptinformationsträgern in der Natur. Darüber hinaus haben Kohlenhydrate in lebenden Organismen viele zentrale Aufgaben – insbesondere im Zusammenspiel mit Eiweißen (Proteinen).
Zuckerstrukturen fungieren als Antennen und Anker
Die Eiweißmoleküle sind die Arbeitstiere in lebenden Organismen, jede Körperzelle des Menschen enthält Tausende unterschiedliche von ihnen. Die Zuckerstrukturen geben all diesen unterschiedlichen Eiweißen zusätzlich eine persönliche Ausprägung bzw. Charakter und modulieren deren Funktionen oder ergänzen sie mit weiteren unterschiedlichsten Funktionen. Hängen die Zucker beispielsweise an Eiweißmolekülen auf der Oberfläche von Zellen, dann dienen sie als Antennen. Damit können Zellen sowohl Informationen empfangen und ins Innere weiterleiten als auch Signale aus dem Zellinneren an benachbarte Zellen oder vorbeitreibende Eiweiße weitergeben.
Für im Blutstrom schwimmende Zellen können angehängte Zuckerketten aber auch als eine Art Anker dienen, um sich an einen bestimmten Ort anzuheften und in das entsprechende Gewebe einzuwandern. Darüber hinaus haben Zuckermoleküle auch einen Einfluss auf biophysikalische Funktionen und bestimmen unter anderem die Dauer der Aktivität von Eiweißmolekülen, an denen sie hängen. Wenn sich Wissenschaftler mit der Rolle von Zuckerstrukturen beschäftigen, dann wird dies Glykobiologie genannt – abgeleitet vom griechischen Wort „glykós“ für „süß“.
Forscherprofil: Die künstliche Herstellung von Zuckermolekülen ist für Glykobiologen unerlässlich. Früher waren dafür Monate nötig. Inzwischen hat Peter Seeberger einen Roboter für diese Arbeit entwickelt. Mehr |
Schwerpunkt vieler Glykobiologen: Neue Therapien auf Zuckerbasis
Im Fokus der Glykobiologen in der medizinischen Forschung stehen dabei folgende Fragen:
• Wie beeinflussen Zuckerstrukturen die Eigenschaften von Eiweißmolekülen, an denen sie gebunden sind?
• Welche Rolle spielen Kohlenhydrate bei Erkennungsprozessen zwischen Zellen untereinander sowie zwischen Zellen und Eiweißen?
• Welche Prozesse finden bei diesen Zell-Zell- sowie Zell-Eiweiß-Interaktionen statt?
Diese gilt es bezogen auf krankheitsrelevante Prozesse aufzuklären – sei es bei der Suche nach der Ursache von Krankheiten, sei es bei der Feststellung, in welchem Entwicklungsstadium sich die Krankheit befindet.
Darüber hinaus werden Zuckerstrukturen zielgerichtet bei der biotechnologischen Herstellung eiweißbasierter Medikamente genutzt – um sie passgenauer für den Menschen maßzuschneidern. Dafür werden die Produktionsstämme von Mikroorganismen oder tierische Zelllinien so optimiert, dass sie nicht nur passende Eiweißmoleküle herstellen, sondern ihnen gleichzeitig die passenden Zuckerketten anhängen. Mit dieser Art „Zuckerguss“, der Glykosylierung, lässt sich die biologische Aktivität von Medikamenten verbessern und ihre Wirksamkeit erhöhen.
Impulse für gesundheitsfördernde Lebensmittel
Die Zuckerforschung beschränkt sich jedoch nicht nur auf den medizinischen Bereich. Bioaktive Zuckerverbindungen spielen auch bei der Entwicklung von Lebensmitteln eine immer wichtigere Rolle – nicht nur, um ihnen Süße zu verleihen. Vielmehr verstehen Forscher immer besser, welchen Einfluss etwa bestimmte Zuckerverbindungen in Lebensmitteln bei der Anheftung und Abwehr von Krankheitserregern im menschlichen Verdauungstrakt haben.
Glykostrukturfabrik |
Im Rahmen der Glykostrukturfabrik hat sich in Berlin inzwischen das jährliche Glykan-Forum als Treffpunkt und Austausch zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik entwickelt. Die nächste Veranstaltung findet vom 23.-24. Mai 2008 statt. |
Dieses Wissen kann nun zielgerichtet für die Herstellung neuer Produkte eingesetzt werden, um Lebensmittel mit Zusatzstoffen anzureichern, die prophylaktisch wirken oder als Therapeutikum eingesetzt werden können. Die Forschungsarbeiten zu solchen, auch Functional Food genannten Lebensmitteln hat in den vergangenen Jahren einen enormen Aufschwung genommen, und die Glykobiologen können hier zu neuen Entwicklungen beitragen.
Biomaterialforschung: Verträgliche Implantate
Letztlich kommen Zuckermoleküle aber auch bei der Entwicklung innovativer Biomaterialien zum Einsatz. Als Biomaterialien gelten dabei nicht nur Implantate und Prothesen, sondern auch alle weiteren Werkstoffkomponenten, die mit biologischen Systemen interagieren und dort eine Funktion übernehmen. Für viele Behandlungen ist der Einsatz solcher Materialien unabdingbar, allerdings dürfen sie dafür keine Abwehrreaktionen des Körpers hervorrufen. Weil die Verträglichkeit stark von der chemischen Zusammensetzung des Materials und seiner Oberflächenstruktur abhängt, sind hier zunehmend Glykobiologen und ihr Wissen um die Bedeutung von Zuckerstrukturen auf Zelloberflächen gefragt. Ein Ziel der Forscher besteht beispielsweise darin, natürliche Oberflächen nachzuahmen und mit bioaktiven Elementen auszustatten.
Arbeitsgruppenwettbewerb Glykobiotechnologie: Erste Projekte ausgewählt
Mit dem im Jahr 2006 initiierten Arbeitsgruppenwettbewerb Glykobiotechnologie will das BMBF dieses hochinnovative Forschungsfeld an deutschen Hochschulen sowie Forschungseinrichtungen in den kommenden Jahren nachhaltig etablieren. Die geförderten Gruppen verfolgen anwendungsorientierte Forschungsansätze und sollen wissenschaftlich attraktive Kristallisationspunkte bilden. Erste Projekte wurden inzwischen ausgewählt (siehe Tabelle). Auf diese Weise soll die glykobiotechnologische Forschung in Deutschland insbesondere als Voraussetzung für Innovationen in der Pharma- und Biotech-Industrie weiterentwickelt und gestärkt werden, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands auf dem Gebiet der Glykobiotechnologie weiter auszubauen.
Auswahl der geförderten Projekte im aktuellen Arbeitsgruppenwettbewerb:
Projektleiter | Thema |
Dipl.-Biochem. Dr. med. Ingo Müller, Universitätsklinikum Tübingen | Analyse von Zuckerstrukturen bei der Entwicklung des Neuroblastoms* Mehr Informationen erhalten Sie hier |
Dr. Andrea Horst, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf | Neue Diagnostika und Therapeutika im Kampf gegen den schwarzen Hautkrebs* Mehr Informationen erhalten Sie hier |
Dr. Ralf Richter, Max-Planck-Institut für Metallforschung, Stuttgart | Einblick in die Zuckerhülle lebender Zellen* Mehr Informationen erhalten Sie hier |
Prof. Dr. Till Opatz, Universität Hamburg | Mit künstlichen Molekülen dZell-Zell-Erkennung beeinflussen* Mehr Informationen erhalten Sie hier |
n.n. | Wie Struktur und Funktion bei Zuckermolekülen zusammenhängen* Mehr Informationen erhalten Sie hier |
*Hinweis: Dies sind nicht die wissenschaftlichen Titel der eingereichten Projekte.