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Seltene Leiden: Kooperationen sind entscheidend

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Der Schalttag 29. Februar wurde symbolisch zum Tag der Seltenen Krankheiten erklärt. Quelle: www.rarediseaseday.org/

15.03.2012  - 

Wird jemand krank, geht er zum Arzt. Nach einer Untersuchung erkennt der Mediziner die Krankheit, verschreibt die passende Arznei und der Patient wird gesund. Was bei Grippe oder Durchfall funktioniert, wird bei seltenen Erkrankungen oft zur schier unlösbaren Aufgabe. Für Hausärzte ist es nahzu unmöglich, die weithin unbekannten Leiden zu diagnostizieren. Für Patienten bedeutet das eine regelrechte Odyssee, die häufig erst beim Spezialisten an einer Uniklinik endet. Doch selbst wenn der das Leiden korrekt diagnostiziert, ist damit manchmal noch nichts gewonnen. Fehlt die richtige Arznei, so kann der Betroffene nur unzureichend versorgt werden. In der Vergangenheit scheuten die Pharmakonzerne meist die Entwicklung von Medikamenten speziell für seltene Krankheiten. Die sogenannten Orphan Drugs erschienen wirtschaftlich nicht interessant genug. Das ändert sich nun langsam.

In den vergangenen Jahren ist das Interesse großer Pharmakonzerne an den einst ungeliebten Waisenkindern der Branche sprunghaft gestiegen. Der Trend zur Nische dürfte zumindest teilweise den harten wirtschaftlichen Fakten geschuldet sein: Eine Reihe von Fehlschlägen bei der Neuentwicklung von Medikamenten für Volkskrankheiten sowie der steigende Druck auf die Gesundheitsbudgets in vielen Industriestaaten haben dies nach einer Analyse des amerikanischen Finanzdienstleisters Morningstar ausgelöst. Je stärker sich die Aussichten auf milliardenschwere Blockbuster schwinden, umso mehr gewinnen die Waisenkinder am anderen Ende der Mengenskala an Attraktivität.

Orpha.net

"Keine Krankheit kann zu selten sein, um ihr die Aufmerksamkeit zu verweigern. Seltene Krankheiten sind selten, aber die Zahl der Patienten ist riesig." Unter diesem Motto sammelt die Webseite www.orpha.net Informationen über seltene Krankheiten für Betroffene, Forscher und Ärzte.

Pharmakonzerne suchen Kooperationspartner

Die Entwicklung der Medikamente können aber selbst die Pharmariesen heute nur noch in Ausnahmefällen alleine stemmen. Stattdessen sind es häufig Entwicklungen und Konzepte aus kleineren Universitätslaboren und -kliniken, die den Sprung in das Produktportfolio der Großen schaffen. Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit lieferte der Lungenexperte Stefan Hippenstiel von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Infektiologie und Pneumologie der Charité – Universitätsmedizin in Berlin. Im Mai 2011 konnte der Mediziner einen Arzneimittelkandidaten zur Behandlung des akuten Lungenversagens an die Schweizer Mondobiotech AG auslizenzieren. Doch vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt: Um auf der Industrieseite überhaupt das Interesse an seinem Peptid-Wirkstoff zu wecken, brachte Hippenstiel die Substanz durch die Orphan-Drug-Prüfung der europäischen Arzneimittelbehörde (EMA). „Ich habe eine 1.600 Seiten umfassende Dokumentation eingereicht, da habe ich eineinhalb Jahre dran geschrieben“, so Hippenstiel im Gespräch mit dem Biotechnologie-Nachrichtenmagazin |transkript. Weil das Molekül nicht mehr über Patente geschützt werden konnte, fehlte lange Zeit eine Verwertungsstrategie. „Die pharmazeutische Industrie hat ja erst einmal ein sehr geringes Interesse daran, ein Medikament für nur wenige Patienten in Deutschland zu entwickeln“, beschreibt der Mediziner seine Erfahrung. Erst der Orphan-Drug-Status von der EMA habe hier eine Perspektive geschaffen.

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„Am Ende des Tages muss es ein vermarktbares Medikament geben“

Dass auch Orphan Drugs sich den normalen Marktgesetzen beugen müssen, bestätigt Günter Schwarz von der Universität Köln: „Am Ende des Tages muss es ein vermarktbares Medikament geben.“ Der Professor am Institut für Biochemie sorgte im Mai 2008 für Aufsehen. Damals wandten sich die australischen Eltern des später als „Baby Z“ bekanntgewordenen Mädchens hilfesuchend an ihn. Das Neugeborene litt an der normalerweise tödlichen Molybdän-Cofaktor-Defizienz. Das Team von Schwarz hatte einen Weg gefunden, die für die Cofaktor-Synthese benötigte Substanz „cyclic pyranopterin monophosphate“ (cPMP) in E. coli zu produzieren (mehr...). Auf Bitten des behandelnden Arztes schickte Schwarz die lediglich im Tiermodell getestete Substanz per Express auf die andere Seite der Welt. Die Behandlung schlug an, das Mädchen wurde gerettet. Um aus dem individuellen Heilversuch eine regelrechte Therapie zu entwickeln, gründete Schwarz die Orphatec Pharmaceuticals GmbH und kaufte der Universität die Patente ab. „Wir haben später den Orphan Drug-Status von der FDA und EMA erhalten und ein Studienprotokoll für klinische Versuche mit der US-Arzneimittelaufsicht diskutiert“, so Schwarz. Aufgrund der gewonnenen klinischen Erfahrungen, der jahrelangen Grundlagenforschung und Orphan-Drug Zulassung gelang es der Orphatec Pharmaceuticals GmbH im Februar 2011, ihre Patentschutzrechte für drei Millionen Euro an den auf seltene Erkrankungen spezialisierten US-Konzern Alexion Pharmaceuticals Inc. zu verkaufen. Heute arbeiten beide Firmen gemeinsam an der weiteren klinischen Entwicklung von cPMP.

Die Vereinbarung kommt zu einem für die Branche typischen Entwicklungsschritt: beim Übergang von präklinischer zu klinischer Forschung. An dieser Stelle sind die Möglichkeiten der Akademie, die Projekte weiterzuführen, meist erschöpft. Ein Grund ist die deutsche Förderlandschaft. Bei den drei großen Geldgebern Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Bundesforschungsministerium und EU könnte in Einzelprojekten gar nicht genug Geld eingeworben werden, um die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen, die an die klinischen Versuche gestellt werden. „Da gibt es einfach keinen geeigneten Fördertopf“, so Hippenstiel. Wenn überhaupt, könnten große Verbünde entsprechende Mittel einwerben.  

Industriewissen entscheidet

Es hängt aber nicht nur am Geld: „Produktreinheit, Produktherstellung – das sind alles Dinge, in welche Sie als normaler Mediziner kaum Einblick haben. Das ist ureigenstes Wissen der Industrie“, sagt der Berliner Arzt Hippenstiel. Da sei es nur logisch, die jeweiligen Kompetenzen zusammenzuführen.

Eine Kompetenzteilung, die auch Schwarz befürwortet: „Grundlagenforschung, Proof of Concept – das sind Dinge die sicher im universitären Bereich anzusiedeln sind.“ Dort ist schließlich das Wissen um Krankheitsmechanismen und seltene Leiden verankert. „Das Wissen um solche Krankheiten ist selten und wenig verbreitet“, bestätigt Hippenstiel. Bei sehr seltenen Leiden müssen Patienten manchmal quer durch die Republik reisen, um an den richtigen Spezialisten zu geraten – genau darum sind die Universitätskliniken aber auch unverzichtbarer Entwicklungspartner der Industrie, so  der Berliner Mediziner: „Dort, wo die Diagnose gestellt wird, gibt es auch das meiste Wissen um die Therapie.“ Allein aufbauend auf der Erfahrung mit einem bestimmten Krankheitbild ließe sich eine Therapieidee entwickeln. „Ich kenne kaum ein Pharmaunternehmen, dass seine womöglich Millionen Stoffe umfassende Substanzbibliothek nach einem Wirkstoffkandidaten für eine sehr seltene Indikation durchsucht“, so Hippenstiel weiter. Das sei einfach viel zu teuer.

© biotechnologie.de/bk
 

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