Dirk Haller: Die Darmmikrobe als Problemfall

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Dirk Haller leitet in Personalunion die Abteilung Biofunktionalität im Zentralinstitut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft (ZIEL) und den Lehrstuhl für Biofunktionalität der Lebensmittel an der TU München-Weihenstephan. Quelle: TU München

12.07.2011  - 

Immer mehr Menschen entwickeln eine chronisch entzündliche Darmerkrankung; allein in Deutschland leben rund 300.000 Patienten mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Bislang lassen sich diese Leiden nur lindern, aber nicht heilen – denn bislang weiß man zu wenig über ihre Ursachen. Eine wichtige Rolle kommt an sich harmlosen Darmbakterien zu, die jedoch das körpereigene Immunsystem zu entzündlichen Reaktionen anregen können. Dirk Haller will herausfinden, welche molekularen Mechanismen dieser fatalen Fehlreaktion zugrunde liegen.



 

Schon als Gymnasiast interessiert sich Dirk Haller für die Naturwissenschaften, doch geht es ihm dabei in erster Linie um den Menschen. „Diese grundlegend medizinische Orientierung war mir immer wichtig“, sagt der gebürtige Schwarzwälder, Jahrgang 1968. Heute leitet Haller in Personalunion die Abteilung Biofunktionalität im Zentralinstitut für Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaft (ZIEL) und den Lehrstuhl für Biofunktionalität der Lebensmittel an der TU München-Weihenstephan. In Deutschland ist dieses Fach nur ein weiteres Mal vertreten, an der Universität Hohenheim. In dieser renommierten Hochschule im Süden Stuttgarts nimmt Dirk Hallers wissenschaftliche Karriere ihren Anfang. 1990 schreibt er sich dort für ein Studium der Lebensmitteltechnologie ein.

Lehrstuhl „Biofunktionalität der Lebensmittel“

Der wissenschaftliche Schwerpunkt des Lehrstuhls liegt auf der Untersuchung grundlegender biomedizinischer Aspekte zur Rolle der Ernährung und Mikroben bei der Entstehung, Prävention und Therapie chronischer Krankheiten.

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Das Lehrangebot empfindet der junge Student zunächst als frustrierend, „weil es zu ingenieurwissenschaftlich ausgerichtet war und wenig Bezug zu Krankheiten hatte“. Deshalb entscheidet er sich, zusätzlich Ernährungswissenschaften zu studieren. Besonders angetan ist er von der Mikrobiologie, die sich sowohl mit Krankheitskeimen als auch mit gesundheitsfördernden Bakterien befasst. Hier wird der künftige Ernährungsforscher mit den Fragen konfrontiert, die ihn bis heute beschäftigen: Was genau passiert im Darm, wenn Nahrungsbestandteile, Bakterien und der körpereigene Stoffwechsel aufeinandertreffen?

Bakterien kommunizieren mit der Darmschleimhaut

An einem besseren Verständnis dieser grundlegenden Zusammenhänge sind auch die großen Lebensmittelhersteller interessiert, allen voran die Schweizer Firma Nestlé S. A. Sie lockt Dirk Haller – er hat gerade mit Bravour sein Doppeldiplom absolviert – mit einer spannenden Aufgabe in ihr großzügig ausgestattetes Forschungszentrum am Genfer See. Im Rahmen seiner Doktorarbeit entwickelt er dort ein Modellsystem, das die Darmschleimhaut und ihre Wechselwirkungen mit Mikroben nachstellen soll. „Damals herrschte noch das Dogma, dass die nicht pathogene Mikrobiota quasi als unbeteiligte Masse im Darm herumliegt“, erinnert sich Haller. „Wir waren mit die Ersten, die zeigen konnten, dass diese Bakterien mit dem Darmepithel kommunizieren und es aktivieren.“ Der amerikanische Mediziner Balfour Sartor leitet aus den neuen Erkenntnissen eine provokante Hypothese ab: Wenn gewöhnliche Darmbakterien mit der Darmschleimhaut Signale austauschen, dann können sie womöglich auch Immunfunktionen und somit Krankheitsprozesse beeinflussen – zum Guten ebenso wie zum Schlechten. „Sartor postulierte schon sehr früh, dass an sich harmlose Bakterien die chronische Entzündung bei Darmerkrankungen vorantreiben“, erinnert sich Dirk Haller, „und er hatte damals schon keimfreie Tiermodelle, um solche mikrobiellen Wechselwirkungen gezielt zu untersuchen.“ Fasziniert von diesem Ansatz, geht Haller nach seiner Promotion im Jahr 2001 mit einem Stipendium aus dem damals neu aufgelegten Emmy Noether-Programm der DFG in Sartors Labor nach North Carolina.

Im Gegensatz zur gesunden Darmschleimhaut (li.) verlieren entzündete Darmepithelzellen (re.) ihre wichtige Immunfunktion.Lightbox-Link
Im Gegensatz zur gesunden Darmschleimhaut (li.) verlieren entzündete Darmepithelzellen (re.) ihre wichtige Immunfunktion.Quelle: TU München

Probiotische Lebensmittel können Entzündungsprozesse abmildern

„Das hätte auch schiefgehen können“, lacht Haller, „doch zum Glück konnten wir unsere Hypothese belegen und haben damit einigen Wirbel gemacht.“ An die Verblüffung der Fachkollegen kann er sich noch gut erinnern: Wenn harmlose Bakterien Entzündungen im Darmepithel auslösen können, so die naheliegende Frage, warum sind wir dann nicht alle krank? Dirk Haller betrachtet es als Herausforderung, diese komplexen Zusammenhänge zu verstehen. Trotz seiner Erfolge in den USA zieht es den Nachwuchswissenschaftler schon nach zwei Jahren zurück nach Deutschland. Von Stuttgart und München umworben, entscheidet er sich für Bayern. Denn der neu gestaltete Life Science Campus in Weihenstephan bietet ein exzellentes Forschungsumfeld; Grund genug für Haller, später einen Ruf an die University of Alberta und einen weiteren an die ETH Zürich auszuschlagen.

Inzwischen hat in seiner Disziplin ein Dogmenwechsel stattgefunden: „Heute herrscht Konsens darüber, dass nicht pathogene Bakterien im Darm ganz wesentlich die Integrität und Durchlässigkeit der Darmschleimhaut verändern können. Außerdem weiß man, dass Probiotika die Freisetzung entzündungsfördernder Signalmoleküle modulieren sowie die Überlebensfähigkeit der Darmepithelzellen beeinflussen“, so der Ernährungsforscher. Zu diesen Signalmolekülen zählt das Protein IP-10; es fördert die übermäßige Produktion von Immunzellen und verursacht so eine chronische Darmentzündung. Bleibt die Frage, warum manche Menschen von diesem Prozess verschont bleiben, während andere dauerhaft erkranken. „Nicht pathogene Darmbakterien können nur Personen mit entsprechender genetischer Vorbelastung schädigen“, erklärt Haller.

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Das belegen vergleichende Versuche an gesunden Mäusen und solchen, die aufgrund bekannter Genveränderungen Morbus-Crohn-ähnliche Symptome entwickeln. Infiziert man beide Mäusegruppen mit denselben Darmbakterien, so erkranken nur die genetisch vorbelasteten Tiere. Hält man die Nager aber unter sterilen Bedingungen – also frei von Darmbakterien –, so bleiben beide Gruppen gesund. Ein europäischer Forschungsverbund, dem auch Dirk Haller angehört, sucht derzeit nach den Faktoren und Wirkmechanismen, mit denen gewöhnliche Darmbakterien die krankhaften Prozesse bei genetisch vorbelasteten Patienten in Gang setzen. Als sicher gilt der Einfluss verschiedener eiweißspaltender Enzyme, sogenannter Proteasen.

Allerdings befasst sich Haller nicht nur mit den negativen Effekten der Mikrobiota. In einem vom BMBF geförderten Verbundprojekt erforscht er den – positiven – Einfluss probiotischer Mikroorganismen auf Entzündungen des Magen-Darm-Trakts. Projektpartner sind der Humanbiologe Michael Schemann von der TU München sowie die Firma Nestlé, vertreten durch Hallers einstige Chefin Stefanie Blum. „Wir wollen durch dieses BMBF-Projekt grundlegende Wirkprinzipien in der Wechselwirkung zwischen probiotischen Bakterien, Darmepithel und enterischem Nervensystem aufzeigen. Kurz gesagt geht es um die Frage: Was macht ein Bakterium probiotisch?“, so Haller. Dazu untersucht er mit seinen Partnern, welchen Einfluss verschiedene Bakterienarten und -stämme der Gattungen Bifidobakterium und Lactobacillus auf den Gesundheitszustand von Mäusen mit genetischer Anfälligkeit für chronische Dünn- oder Dickdarmentzündungen haben. Experimente mit speziellen Zellkulturen aus Darmepithelzellen ergänzen die Tierversuche.

Milchsäurebakterien geben entzündungshemmendes Molekül ab

„In beiden Fällen haben wir geschaut, ob sich durch die Bakterien bestimmte Entzündungsprozesse reduzieren lassen und wenn ja, auf welcher Ebene man das messen kann. So sind wir auf das IP-10 aufmerksam geworden und konnten zeigen, dass einige Bakterienstämme seine Produktion hemmen“, erklärt der Wissenschaftler. Tatsächlich unterscheiden sich die Bakterien sehr stark in ihrer Wirkung: Positive Effekte zeigen nur wenige der getesteten Mikroben, darunter ein Lactobacillus-casei-Stamm, der bereits als Probiotika zur unterstützenden Behandlung von chronischen Entzündungen im Dickdarm eingesetzt wird. Außerdem sind positive Effekte im Dünndarm weniger stark ausgeprägt als im Dickdarm. „Das passt zu der Beobachtung, dass sich eine Dünndarmentzündung mit Probiotika nur schwer beeinflussen oder gar behandeln lässt“, sagt Haller.

Im nächsten Schritt wollen die Forscher das für die Effekte zuständige entzündungshemmende Molekül identifizieren. Bisher deutet alles darauf hin, dass es sich um eine Protease handelt. Ihre krankheitslindernde Wirkung könnte darauf beruhen, dass sie das IP-10 spaltet und damit außer Gefecht setzt. „Sollte sich unsere Vermutung bestätigen, dann hätten wir erstmals eine Protease, die vor entzündlichen Prozessen schützt, statt sie zu fördern“, betont Haller und gibt sich optimistisch: „Diese Entdeckung könnte uns dem Ziel einer effektiven und risikofreien Behandlungsmöglichkeit für chronisch entzündliche Darmerkrankungen einen Schritt näher bringen.“

Dieser Text stammt aus der Broschüre "Ernährungsforschung", die das Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegeben hat. Sie kann online als pdf und als Printprodukt im Bestellbereich von biotechnologie.de angefordert werden.

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