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Leben 3.0: Tagung über die biologische Zukunft des Menschen

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Ein Beispiel für die Verbindung von Kunst und Wissenschaft: Die Hautzellen des Künstlers Reiner Maria Matysik wachsen in einem Medium zu einer Bioskulptur heran. Quelle: Matysik

21.09.2010  - 

Wenn sich Science-Fiction-Autoren die Menschen der Zukunft vorstellen, dann tauchen Gestalten mit übergroßen Gehirnen und elektrisch-mechanischen Implantaten auf, oder es wird gleich ganz virtuell. Eine Tagung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften versuchte diesem „Leben 3.0“ mit einem Vielgestirn an Blickwinkeln beizukommen: Kulturwissenschaftler, Philosophen, Psychiater, Biowissenschaftler und Künstler diskutierten zwei Tage lang über die „Zukunft der Evolution“. Auf der Tagesordnung standen Themen wie die Entschlüsselung des genetischen Codes, Synthetische Biologie, Human Enhancement sowie die gegenseitige Befruchtung von Kunst und (Bio)Wissenschaft.



 

Die Veranstaltung, die am ersten Tag in der pittoresken Hörsaalruine im Medizinhistorischen Museum auf dem Charite-Campus abgehalten wurde, um dann am zweiten Tag in den repräsentativen Einstein-Saal im Hauptquartier der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt umzuziehen, erfüllte eine inhaltliche Scharnierfunktion. Seit 2009 beschäftigt sich die Akademie in ihrem Zweijahresthema  nämlich mit „Evolution in Natur, Technik und Kultur“. In den kommenden beiden Jahren wird es um das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst gehen. Die interdisziplinäre Tagung "Leben 3.0" mit ihrem weit aufgespannten Horizont war als Abschluss des alten und zugleich als Auftakt des neuen Themas zu verstehen.

Genomsequenzierung in 10 Jahren Standard

Wenn es um darum geht, in welche Richtung die menschliche Evolution in den nächsten hundert Jahren gehen könnte und vor allem wie der Mensch sich selbst durch eigenes Zutun gestalten und verändern wird, dann geht es vor allem um Biotechnologie. Doch derart bedeutende Fragen dürften nicht der Naturwissenschaft alleine überlassen werden, warnte der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin und Kirchenhistoriker Christoph Markschies in seinem einführenden Vortrag.

Evolution in Natur, Technik und Kultur

Das Jahresthema 2009/2010 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften beschäftigt sich mit allen Facetten der Evolution.

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Fakt ist, dass die Visionen von einer menschengemachten biologischen Evolution erst durch die Entwicklung der Genetik in den vergangenen Jahrzehnten in greifbare Nähe rückten. „Bereits in zehn Jahren wird die Genomsequenzierung bei Neugeborenen medizinischer Standard sein, fragt man amerikanische Experten“, sagte Hans-Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin. Er erwartet eine medizinische Revolution nicht nur in der Diagnostik, und forderte, dass sich die deutsche Öffentlichkeit diesen Entwicklungen stellen müsse. Ropers Forscherkollege Jörn Walter, Professor für Genetik an der Universität des Saarlandes, informierte über die Epigenetik als jüngste Erweiterung der Vorstellung vom Erbgut. In den kommenden Jahren will ein internationales forscherteam mit deutscher Beteiligung rund 1000 epigenetische „Fingerabdrücke“ von jedem Zelltypen des Menschen anfertigen (mehr...).

Roland Eils ist Bioinformatiker bei der Universität Heidelberg und dem Deutschen Krebsforschungszentrum. Als Brückenbauer zwischen den Disziplinen fühlte er sich auf der interdisziplinären Tagung "Leben 3.0" besonders wohl. Lightbox-Link
Roland Eils ist Bioinformatiker bei der Universität Heidelberg und dem Deutschen Krebsforschungszentrum. Als Brückenbauer zwischen den Disziplinen fühlte er sich auf der interdisziplinären Tagung "Leben 3.0" besonders wohl. Quelle: BBAW

Erster Raubkopierer der Biologie

Roland Eils vom Institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der Universität Heidelberg (hier sein Profil auf biotechnologie.de) ging es in seinem Vortrag darum, die Vorteile der Verbindung von Ingenieurwissenschaften und Biologie hervorzuheben. Besonders die weitgehende Standardisierung künstlich erzeugter biologischer Komponenten habe großes Potenzial. Einige der jüngsten Fortschritte seiner Disziplin beurteilte er aber durchaus kritisch: „Craig Venter ist der erste Raubkopierer eines biologischen Bauplans der Geschichte,“ urteilte Eils über den US-Gentechnikpionier, der vor einigen Monaten das erste lebensfähige Bakterium mit synthetisch hergestelltem Erbgut präsentierte (mehr...).

Die ethischen Probleme, denen sich die Gesellschaft in diesem Zusammenhang stellen muss, beleuchtete Kristian Köchy, Philosoph an der Universität Kassel. Die Lücke zwischen den Heilsversprechen einerseits und den tatsächlichen Ergebnissen andererseits sah er als besonders problematisch: „Wo Science in Fiction übergeht, wachsen auch die diffusen Ängste.“ Derlei Ängste waren Ausgangspunkt für den Vortrag der Kulturwissenschaftlerin Bettina Bock von Wülfingen von der Humboldt-Universität zu Berlin. In der öffentlichen Diskussion um die synthetische Biologie machte sie zwei große Gruppen aus: Viele sehen vor allem die Gefahren, welche sich aus der Vermischung natürlicher Lebewesen und künstlich erschaffener Chimären ergeben. Sie fürchteten einen Verlust der „natürlichen Reinheit“. Andere hofften, dass sich aus dem Überschreiten von Grenzen neue Möglichkeiten ergeben.

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Kluft zwischen Recht und Vernunft

Die drei Vorträge boten viele Anknüpfungspunkte zur Diskussion. Im Vordergrund standen dabei vor allem wissenschaftliche und juristische Fragen. Die Möglichkeiten, mithilfe der synthetischen Biologie die Grenze zwischen organischer und anorganischer Chemie zu verschieben und so die Trennung von belebter und unbelebter Natur aufzuheben, wurde am Beispiel der neuesten Generation der Hauttransplantate diskutiert. Wie sehr sich aus der unbegrenzten Patentierbarkeit biosynthetischer Entwicklungen unbegrenzte Profite schlagen lassen und ob sich daraus eine Gefahr für die Gesellschaft entwickelt gehörte zu den wesentlichen Sorgen des Publikums. Bock von Wülfingen fasste den gemeinsamen Standpunkt der drei Vortragenden dazu wie folgt zusammen: „Die Gesellschaft muss hier aufpassen. Sonst überlässt man es dem Justizapparat, die Kluft zwischen Rechtsetzung und gesellschaftlicher Vernunft zu überbrücken.“

Kurzfristiger gedacht ist eine weitere Praxis, von der in jüngster Zeit immer öfter die Rede ist. Human Enhancement bezeichnet alle Versuche, mit biologischen und technischen Hilfsmitteln die Fähigkeiten des eigenen Körpers oder Bewusstseins zu steigern. Auch Schönheitsoperationen zählen im weitesten Sinne dazu, informierte Arnold Sauter vom Büro für Technikfolgenabschätzung beim deutschen Bundestag, der sich gerade für die Abgeordneten mit diesem Thema beschäftigt. Er sah die Optimierung des Körpers auf diese Weise jedoch eher als Teil der Leistungslogik der Gegenwart denn als Weiterentwicklung des Konzepts Mensch.

Reiner Maria Matysik entwirft in Wachsmodellen eine ferne Zukunft menschlichen und biologischen Lebens.Lightbox-Link
Reiner Maria Matysik entwirft in Wachsmodellen eine ferne Zukunft menschlichen und biologischen Lebens.Quelle: Matysik

Synthetische Hinterteile für jede Gelegenheit 

Noch weiter als es die nüchternen Wissenschaftler sich jemals zutrauen würden, blicken Künstler in die biologische Zukunft. Reiner Maria Matysik war der sichtbarste Exponent seiner Zunft, da er nicht nur einen Vortrag hielt, sondern auch die begleitende Ausstellung im Medizinhistorischen Museum Berlin bestückte (die Schau läuft dort noch bis zum 9. Januar 2011). Dort waren Kunstlebewesen in Überlebensgröße ebenso zu bewundern wie Wachsmodelle von biologischen Formationen, die nur noch abstrakt an das Leben erinnern, wie wir es uns heute vorstellen. Einen Schritt in die nächste Evolutionsstufe biologisch inspirierter Kunst geht Matysik mit einem Projekt, das leicht zu übersehen war bei den ganzen bunten Fantasieformen. Konserviert in einem Glas schwimmt ein rotes, filigranes Objekt mit kurvigen Rundungen. Es sind Hautzellen von Matysik, die er sich entnehmen ließ und über eine Form gestülpt heranzog. Der Film von der Operation läuft nebenher.

Andere Beispiele, wie sich die Kunst für die Biologie interessiert und was dabei herauskommt, zeigte Ursula Damm, die als Professorin an der Bauhaus-Universität Weimar mit ihren Studenten nicht nur mögliche Produkte der synthetischen Biotechnologie ausdenkt, sondern dafür gleich noch Werbekampagnen entwirft. So konnten sich die Besucher der Tagung einen Clip über austauschbare Hinterteile für jede Gelegenheit ebenso ansehen wie die Werbung für ein Mundspray, das echte Verliebtheit auslöst. „Wir betreiben kulturelle Folgenabschätzung der Biotechnologie“, sagte Damm. Mit ihren Visionen nehmen die Studenten auch am aktuellen iGEM-Wettbewerb zur synthetischen Biologie teil, der Anfang November in Boston stattfindet. Auf biotechnologie.tv stellen wir jede Woche ein neues der inegsamt acht deutschen Teams 2010 vor (mehr...).

Dass sich Naturwissenschaftliche Biotechnologie, Kulturwissenschaft und Kunst gegenseitig befruchten können und müssen, davon ist auch Frank Rösl überzeugt. „Der Künstler meistert die äußere Aura“, sagte Rösl, „der Wissenschaftler ist für die inneren Zusammenhänge zuständig“. Der Molekularbiologe am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg verkörperte die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft selbst am besten. Er beschäftigt sich als Wissenschaftler schon seit langem mit dem blinden Auge der Wissenschaft. „Sie bekommen kein Paper durch, in dem sie ein schönes Experiment vorstellen“, sagte er. Dabei sei Ästhetik durchaus eine legitime Kategore der Erkenntnis. Die Wissenschaft könne einiges von der Kunst lernen, so zum Beispiel die Bedeutung von Inspiration und Zufall für die Erkenntnis. Bisher allerdings sind sich die Disziplinen eher fremd. Vor allem die Wissenschaftler halten Abstand zur Kunst. Ob sich irgendwann einmal tatsächlich eine Profession herausbildet, die beide Welten verbindet, da ist sich Rösl nicht sicher, der zum Abschluss Heinrich von Kleist zitierte. „Man könnte die Menschen in zwei Klassen einteilen, in solche, die sich auf eine Metapher und in solche, die sich auf eine Formel verstehen.“ Menschen, die beides im Blick haben, sind auch 200 Jahre nach Kleists Tod außerordentlich selten. 

 

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