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Placebo: Die Macht der Psyche über den Körper

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Spritzen haben auf Patienten eine hohe Symbolkraft, die den Therapieerfolg begünstigen - egal ob sie ein echtes Medikament enthalten oder nicht. Quelle: pixelio.de/Jenzig71

24.04.2008  - 

Für Medikamentenentwickler ist der Placebo-Effekt ein gefürchtetes Schreckgespenst: Ist er in einer klinischen Studie zu hoch, bedeutet das in den meisten Fällen das Ende des Therapiekandidaten. Schließlich hat der neue Wirkstoff nicht bewiesen, dass er besser als ein Scheinmedikament ist. Wieso der Körper auch ohne "echte" Behandlung reagiert, verstehen Placebo-Forscher immer besser. Ihr Fazit ist klar: Ob eine Therapie erfolgreich ist oder nicht, liegt nicht am Wirkstoff allein. Sehr wichtig ist die Person des Arztes, aber auch, ob es sich um ein teures oder billiges Medikament handelt. Darüber hinaus spielen offenbar Symbole eine Rolle: Spritzen wirken besser als Pillen, Kapseln besser als einfache Tabletten und große Pillen besser als kleine. 

Das Jahr 1999 war für das im britischen Cambridge angesiedelte Biotech-Unternehmen Peptide Therapeutics kein gutes Jahr. Ein zuvor als großer Hoffnungsträger gehandelter Impfstoff gegen Allergien – der einzige damals fortgeschrittene Kandidat in der Pipeline der Firma – war in einer klinischen Studie katastrophal an die Wand gefahren: 75% Prozent der mit einem Placebo behandelten Patienten zeigten die gleiche Wirkung und vertrugen auf einmal große Mengen Nahrungsmittel, auf die sie zuvor allergisch reagiert hatten. Ähnliche Erfahrungen musste 2007 die in Aachen ansässige Biotech-Firma Paion AG sammeln. In einer Studie der Phase III für das Schlaganfall-Präparat Desmoteplase war die Erfolgsrate in der Placebo-Gruppe überraschend groß.

Der Placebo-Effekt...
...taucht im Jahr 1811 das erste Mal in einem medizinischen Wörterbuch auf. Er dient dabei als Ausdruck der Gefälligkeit, die ein Arzt gegenüber einem Patienten erweist, dessen Beschwerden er für untherapierbar oder eingebildet hält.

Der Placebo-Effekt ist das Schreckgespenst der Medikamentenentwickler – und hat bereits eine ziemlich lange Historie. Ursprünglich stammt der Begriff „Placebo“ aus dem Lateinischen und heißt wörtlich übersetzt „Ich werde gefallen“. In der mittelalterlichen Totenliturgie hieß es: „Placebo domino in regione vivorum“ (Ich werde dem Herrn gefallen im Lande der Lebenden“). Ende des 18. Jahrhunderts  tauchte "Placebo" das erste Mal im medizinischen Gebrauch auf. Damals wurde der "unnütze" Charakter geprägt: Als Placebo wurde eine Methode definiert, die mehr dazu gedacht ist, den Patienten eine Weile bei Laune zu halten als zu irgendeinem anderen Zweck.

In klinischen Studien....
...wird der Placeboeffekt explizit genutzt, um neue Medikamente auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Die „wirkungslose“ Pille oder Spritze hat dabei eine wichtige Kontrollfunktion: Nur wenn sich das neue Präparat als signifikant besser als das Placebo erweist, hat es eine Chance auf Zulassung. Experten sprechen dann von placebokontrolliert.

Wenn eine Spritze mit Kochsalz-lösung wie Morphium wirkt

Also wirken Placebos gar nicht? Nicht ganz. Im Zweiten Weltkrieg konnte sich Henry Beecher, Arzt hinter der Front Italiens, vom Gegenteil überzeugen. Als ihm das Morphin ausging, begann er aus der Not heraus, den Kriegsverletzten Kochsalzlösung zu spritzen – und stellt zu seinem Erstaunen fest, dass diese „Nichtbehandlung“ trotzdem erfolgreich Schmerzen bekämpfen konnte. Seine Publikation zum „powerful placebo“, in der er 15 Studien mit mehr als tausend Patienten zusammenfasste, gilt inzwischen als Ausgangspunkt der Placeboforschung. (Journal of the American Medical Association, 1955, Vol.159, Nr.17).

Seitdem versuchen Forscher herauszufinden, wie Medikamente ohne echten Wirkstoff so starke Effekte erzeugen können. In den 60er und 70er Jahren entstanden die auch heute noch gültigen psychologischen Erklärungsmodelle. Demnach können Patienten lernen, dass bestimmte Situationen – ein Arzt mit einem Medikament – eine bestimmte Wirkung erzeugen können (Konditionierung). Hat dies mehrfach geklappt, kann ein positiver Effekt später auch ohne tatsächlichen Wirkstoff mit einem Scheinmedikament erzeugt werden.

Darüber hinaus verbinden kranke Menschen mit einer ärztlichen Handlung naturgemäß hohe Erwartungen. Dies wiederum hat zur Folge, dass allein die Behandlungssituation an sich Effekte beim Patienten hervorrufen kann. Für Aufregung sorgten beispielsweise Studien im Jahr 1959 (New England Journal of Medicine, 1959, Vol. 260, S. 1115-1118) von Chirurgen um Leonard Cobb aus Kansas mit Patienten, die an Angina pectoris litten. Bei dieser Krankheit sind normalerweise die Herzkranzgefäße schlecht durchblutet, die Betroffenen leiden deshalb unter starken Schmerzen im Brustraum. Die Ärzte konnten nun zeigen, dass es 70 bis 90 Prozent der Patienten besser ging, als ihnen eine Arterie abgeklemmt wurde, die gar nichts mit der Herzversorgung zu tun hatte. „Der Patient muss mitbekommen, dass er behandelt wird“, erläutert Fabrizio Benedetti von der Universität Turin, der sich schon seit Jahrzehnten mit der Wirkung von Placebos beschäftigt.

Nicht jede Darreichungsform wirkt beim Patienten auf die gleiche Weise.Lightbox-Link

Was wirkt wie? Bei der Darreichungsform sind Symbole wichtig. Tiefe Injektionen in den Muskel wirken offenbar besser als jene unter die Haut. Spritzen überhaupt besser als Pillen, Kapseln besser als einfache Tabletten und große Pillen besser als kleine.

Dabei haben Operationen einen noch stärkeren Einfluss als Medikamente oder Spritzen. So konnten amerikanische Ärzte um Bruce Moseley in Houston feststellen, dass bei Arthritis-Patienten mit einem Schnitt in die Haut – weit oberhalb des eigentlichen Entzündungsherdes – die Schmerzen genauso gelindert werden konnten wie mit einer tiefen Operation (New England Journal of Medicine, 2002, Vol 347, S. 81-88). Den gleichen Effekt haben Studien mit Patienten gezeigt, die nur zum Schein an der Bandscheibe operiert wurden. Sie waren trotz eigentlicher „Nicht“-Operation zufrieden.

Placebos helfen gut, wenn sie teuer sind und gespritzt werden

Darüber hinaus sind Symbole wichtig: Tiefe Injektionen in den Muskel wirken besser als jene unter die Haut. Spritzen überhaupt besser als Pillen, Kapseln besser als einfache Tabletten und große Pillen besser als kleine. Selbst Nebenwirkungen können einen positiven Effekt auf den Behandlungserfolg haben, weil der Patient das Gefühl hat, dass tatsächlich etwas passiert ist. Erst im März dieses Jahres hatten US-Wissenschaftler vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) zudem festgestellt, dass auch der Preis eine Rolle spielt: Teure Placebos können demnach Schmerzen deutlich besser lindern als billige (Journal of the American Medical Association, 2008, Vol. 299., S. 1016) Wie kann es nun aber sein, dass das Gehirn therapierelevante Reaktionen auslöst, obwohl objektiv gesehen kein Wirkstoff verabreicht wurde? Seit einer Studie des US-Wissenschaftlers Jon Levine von der University of California in San Francisco im Jahr 1979 (Nature, 1979, Vol. 278, S. 740-741) haben Forscher den Verdacht, dass Placebo-Effekte durch die Ausschüttung körpereigener Botenstoffe (Endorphine) erzielt werden.

Infusionen ohne Arztkontakt können weniger wirken, selbst wenn sie einen echten Wirkstoff enthalten.Lightbox-Link
Infusionen ohne Arztkontakt können weniger wirken, selbst wenn sie einen echten Wirkstoff enthalten.Quelle: pixelio.de/twibi

Benedetti konnte diese These schließlich seit den 90er Jahren mehrfach belegen. Das Analysezentrum des Gehirns, der präfrontale Kortex registriert und bewertet demnach die ärztliche Behandlung. Gleichzeitig taucht das limbische System im Hirn – welches der Verarbeitung von Emotionen dient – alle begleitenden Informationen in eine emotionale Farbe. Als Reaktion auf die positiven Erwartungen werden Opioid-Rezeptoren aktiviert und Endorphine ausgeschüttet. Ähnlich wie Morphium binden diese an Rezeptoren des schmerzleitenden Nervensystems und senken dessen Aktivität. Das Großhirn nimmt keine Reize wahr, der Mensch fühlt keinen Schmerz. Im Jahr 2002 konnten Neurowissenschaftler um Predrag Petrovic vom Karolinska-Institut in Stockholm, Schweden, erstmals mit neuen Imaging-Methoden nachweisen, dass Placebos tatsächlich die gleichen Gehirnregionen aktivieren wie Schmerzmittel, nämlich solche, in denen sich viele Opioid-Rezeptoren befinden (Science, 2002, Vol. 295, Nr. 5560, S. 1737). Bei Parkinson-Patienten wiederum können Placebos sogar defekte Dopamin-produzierende Signalwege im Großhirn reaktivieren, wie kanadische Forscher herausgefunden haben (Science, 2001, Vol. 293, S. 1164). Selbst einen Effekt auf das Immunsystem durch Placebos konnten Wissenschaftler bereits demonstrieren.

Welche Lehre müssen Medikamentenentwickler daraus ziehen? „Die psychologischen Faktoren sollte die Medizin stärker ausnutzen“, sagt Placebo-Forscher Manfred Schedlowski von der Universität Essen. Besondere Relevanz haben Placebos bei Therapien in schmerzbedingten Indikationen, aber auch bei Parkinson oder psychologischen Erkrankungen.

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Die Süddeutsche Zeitung hat sich in einem Spezial dem Streit um Antidepressiva und ihre Wirkung gewidmet. Dabei wird die Krankheit Depression von all ihren Seiten beleuchtet.

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Placebo-Effekt bei klinischen Studien

Erst im Februar 2008 sorgte eine Meta-Analyse klinischer Studien von Antidepressiva für Aufregung, die kaum Unterschiede zwischen Placebos und Therapeutika zeigte (PLoS Medicine, 2008, Vol. 5, S. 45). Dies zeigt auch: Klinische Studien suggerieren, dass das Medikament im Mittelpunkt steht. Doch am Ende kann die Behandlungssituation viel entscheidender sein als der eigentliche Wirkstoff. Auch der Preis einer Therapie ist alles andere als nebensächlich. Geht es nur darum, billigere Medikamente auf den Markt zu bringen – wie bei Biosimilars –, könnte dies  kontraproduktiv für den Behandlungserfolg sein. Inzwischen wird sogar vermutet, dass bei Resistenzen gegen Medikamente der Nocebo-Effekt eine Rolle spielen könnte – also im Gegensatz zum Placebo ein psychologisch motivierter negativer Einfluss, der die Wirkung einer eigentlich wirksamen Substanz senken kann.

Die britische Peptide Therapeutics, heute Acambis, und die deutsche Paion AG haben ihre Placebo-Fälle überlebt. Der Impfstoff wurde fallengelassen, das Schlaganfall-Präparat geht in eine neue Runde. Inzwischen gibt es in der Wissenschaft immer stärker die Einsicht, dass Placebos nicht gefürchtet, sondern verstanden werden müssen. Damit steht der Medizin womöglich eine prinzipielle Kehrtwende bevor. Krebsforscher Axel Ullrich vom Max-Planck-Institut für Biochemie, Gründer der Münchner Biotech-Firma U3-Pharma, ist überzeugt: „Das Immunsystem ist sicher über die Psyche ansprechbar.“                                            

 

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