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Nacktmullen kann Säure nichts anhaben

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Afrikanischer Nacktmull im Labor von Professor Gary Lewin Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin

16.12.2011  - 

Geht es um Schmerzen, haben afrikanische Nacktmulle ein dickes Fell. Denn wenn die haarlosen Nager mit Säure in Kontakt kommen, empfinden sie keine Schmerzen. Berliner Wissenschaftler um Ewan Smith und Gary Lewin haben jetzt herausgefunden warum. Aufgrund extremer Umweltbedingungen unter der Erde muss der Nacktmull-Stoffwechsel mit einer hohen Konzentration von Säure zurechtkommen. In der aktuellen Ausgabe des Fachjournals Science (2011, Bd. 334, S.1557) legen die Forscher offen, welche molekularen Ursachen dafür sorgen, dass Nacktmulle die Säure zumindest nicht als Schmerz spüren. Die Erkenntnisse können genutzt werden, um Schmerztherapien in Zukunft besser auf Patienten zuzuschneiden.

Nacktmulle sind faszinierende Tiere, die perfekt an einen extremen Lebensraum angepasst sind. Sie leben in einem verzweigten Tunnelsystem unter der Erde, welches sie mit ihren charakteristischen Vorderzähnen graben. Sie ernähren sich fast ausschließlich von Knollen, müssen nicht trinken und gelten als die einzigen wechselwarmen Säugetiere. Außerdem bilden die Tiere soziale, von einer Königin regierte Staaten.

Nacktmulle leben in Staaten mit durchschnittlich 100 Individuen. Vereinzelt wurden auch Staaten entdeckt, die bis zu 300 Tiere zählen.Lightbox-Link
Nacktmulle leben in Staaten mit durchschnittlich 100 Individuen. Vereinzelt wurden auch Staaten entdeckt, die bis zu 300 Tiere zählen.Quelle: Michael Neel
Säurefeste Nagetiere

Besonders interessant für Forscher ist aber die Tatsache, dass die Nager unempfindlich  gegenüber Säure sind. Warum sich diese Eigenschaft im Laufe der Evolution herausgebildet hat, erklärt Ewan St. John Smith vom Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC): „Die Tunnel sind nicht ausreichend belüftet. Die Konzentration an ausgeatmetem Kohlendioxid liegt daher bei über 5 Prozent.“ Ein Wert, der mehr als hundertmal über dem von Frischluft liegt. Kommt das Gas Kohlendioxid in Kontakt mit Flüssigkeiten, entsteht Kohlensäure. Bei Säugetieren passiert dies vor allem in den Schleimhäuten von Mund und Nase. Bei Säurekontakt signalisieren die für die Wahrnehmung von Schmerz spezialisierten Neuronen, die sogenannten Nozizeptoren, Gefahr. Anders bei den Nacktmullen: „In unseren Experimenten beobachten wir, dass die Tiere bei Kontakt mit saurer Salzlösung keine Schmerzreflexe zeigen. Die Präsenz hoher Konzentrationen von Kohlensäure macht ihnen offenbar nichts aus“, so Smith.

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Mull-Maus-Vergleiche

Doch was ist die molekulare Basis für die Unempfindlichkeit der Nacktmulle? Smith und Lewin sind dieser Frage nachgegangen. Sie untersuchten die Nozizeptoren von Mull und Maus genauer. Auf der Oberfläche dieser Nervenzellen sitzen bestimmte Rezeptoren und Ionenkanäle, die das Vorhandensein von Säure,  genauer: von Wasserstoffionen (Protonen), registrieren. Überraschend für die Forscher ist deren Funktion bei den Nacktmullen aber nicht verändert.

Es ist ein anderer Ionenkanal, der die Aufmerksamkeit auf sich zog. Einer, von dem man nicht erwartet hatte, dass er stark auf Protonen reagiert. Der Natriumkanal Nav1.7 ist eigentlich „nur“ für die Weiterleitung sensorischer Informationen Richtung Rückenmark zuständig. Es war zwar bekannt, dass er von Protonen in seiner Funktion beeinträchtigt werden kann, allerdings nur in physiologisch unerheblichem Maße. Bei Nacktmull-Nozizeptoren sieht das allerdings ein wenig anders aus.

Der Natriumkanal Nav 1.7 rückt in den Fokus

Zunächst konnten die Forscher keine Unterschiede zwischen den beiden Nagetieren feststellen: Senkte Smith den pH-Wert der auf die Haut aufgetragenen Lösung, waren die Nozizeptoren von Nacktmull und Maus auf ähnliche Weise aktiv. Die Forscher besannen sich dann auf den natürlichen Lebensraum der Nacktmulle. Im Gegensatz zu ihren Experimenten erfahren sie dort keine plötzlichen pH-Wert-Änderungen. In den Tunnelgängen ist die Kohlendioxidkonzentration weitgehend konstant. Im nächsten Experiment wurde der pH Wert daher langsam, Stück für Stück, gesenkt.  Und tatsächlich: Bei der graduellen Änderung bleiben die Nerven der Nacktmulle stumm – die Mäuse-Nozizeptoren hingegen werden – wie bei der schnellen pH-Wert-Änderung – stark aktiviert.

Das Vorkommen des Nacktmulls (Heterocephalus glaber) beschränkt sich auf Somalia, Äthiopien und Kenia.Lightbox-Link
Das Vorkommen des Nacktmulls (Heterocephalus glaber) beschränkt sich auf Somalia, Äthiopien und Kenia.Quelle: Achim Raschka über Wikimedia Commons
Die Forscher erklärten sich dieses Phänomen mit einem Korrekturmechanismus, der aber nur bei langsamen pH-Wert-Änderungen zum Tragen kommt. Verantwortlich für diesen Korrekturmechanismus ist der Natriumkanal Nav1.7. Bei den Nacktmullen ist er dergestalt verändert, dass er bei niedrigem pH-Wert (= viele Protonen) stark – statt schwach – gehemmt wird. Die Forscher änderten nun die Sequenz des menschlichen Gens für Nav1.7 an wenigen Stellen in die Sequenz der Nacktmulle: Der nun veränderte menschliche Ionenkanal verhielt sich dann wie der Nacktmull-Kanal: Er wurde durch Protonen in seiner Funktion stark gehemmt. Die Unempfindlichkeit der Nacktmulle gegenüber Säuren liegt also in den Genen.

Schmerzforschung: Ein neues Ziel für Medikamente?

Nozizeptoren reagieren nicht nur, wenn man in Berührung mit Essig kommt. Viel wichtiger ist, dass sie auch entzündliche Prozesse im Körper wie zum Beispiel rheumatische Arthritis registrieren. Diese gehen mit einer Übersäuerung (Azidose) von Körperflüssigkeiten einher. „Etwas nicht zu fühlen, bedeutet nicht, dass es nicht da ist!“ so Ewan Smith gegenüber biotechnologie.de. Die Nacktmulle können sich die Unempfindlichkeit gegenüber Säure nur leisten, da ihr Stoffwechsel einen Weg gefunden hat, mit der Übersäuerung fertig zu werden. Welcher das ist, das wissen die Forscher noch nicht. In dieser Folge der Kreidezeit erklären wir, was sich hinter Begriff dem Ionenkanal verbirgt.Quelle: biotechnologie.tvEbenfalls rätselhaft bleibt, ob Nacktmulle überhaupt eine Entzündung spüren können. Da sie bis zu 30 Jahre alt werden können, kann man rheumatische Erkrankungen nicht ausschließen.

Für den Menschen ist allerdings ein anderer Aspekt wichtiger: Wie kann man den durch eine Azidose hervorgerufenen Schmerz lindern? Klassische Schmerzmittel betäuben unisono alle Nerven. Laut Lewin sucht die Pharmaindustrie nun einen Wirkstoff, der selektiv die säureempfindliche Stelle von Nav1.7 blockiert. Die Nozizeptoren in saurer Umgebung – wie beispielsweise in entzündeten Gelenken – könnten so ruhig gestellt werden, ohne dass die Informationsübertragung der anderen Nerven des Körpers beeinträchtigt ist. Smith ergänzt, dass mit dem neuen Medikament „die Lebensqualität der Patienten durch das Abschalten der Nebenwirkungen gesteigert werden“ könne.

Nacktmulle mögen vielleicht nicht die attraktivsten Tiere unseres Planeten sein, aber für die Wissenschaft entwickeln sie sich mehr und mehr zu einer wahren Fundgrube. Die MDC-Forscher hoffen, dem Nagetier in den nächsten Jahren noch das eine oder andere Geheimnis entlocken zu können.

© biotechnologie.de/ml
 

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