BMBF-Studie: Innovationen im Lebensmittelsektor

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Die Studie untersucht zum ersten Mal die Unternehmens- und Forschungslandschaft im Lebensmittel- und Ernährungssektor in Deutschland. Quelle: Fotolia

25.10.2010  - 

Ein Blick ins Supermarktregal zeigt es: Die Lebensmittelindustrie ist eine der größten Branchen Deutschlands. Den "Innovationssektor Lebensmittel-Ernährung“ hat nun eine Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) erstmals gründlich untersucht. Demnach gibt es in Wissenschaft und Wirtschaft noch erhebliches Potenzial. Während die Forschungsinvestitionen der rund 5.800 Unternehmen in Deutschland im Vergleich zu anderen Branchen gering ist, weist die akademische Ernährungsforschung noch eine zu große Zersplitterung auf. Fazit der Autoren: Bei der Entwicklung neuer Lebensmittel muss mehr kooperiert werden. "Es ist ein Trugschluss, wenn die Unternehmen glauben, sie könnten ihre Produkte immer noch in der gleichen Form anbieten wie vor hundert Jahren", sagt Peter Eisner vom Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung (IVV) in Freising, der die Studie zusammen mit Hannelore Daniel von der TU München erstellt hat.

Hannelore Daniel ist bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, wenn es um von ihr ausgemachte Missstände geht. "Die Ernährungsforschung in Deutschland ist noch immer eine armselige Disziplin“, sagte sie 2007 gegenüber biotechnologie.de (mehr...). Damals meinte sie einen Mangel an forschenden Einrichtungen, eine hohe Differenzierung in einzelne Fachgebiete und damit kaum eine kritische Masse an Arbeitsgruppen, die auch größere multidisziplinäre Projekte angehen können. An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert. "Den Satz kann ich auch heute noch unterschreiben", so die Professorin, die den Lehrstuhl für Ernährungsphysiologie am Wissenschaftszentrum Weihenstephan der Technischen Universität München innehat. Verändert hat sich allerdings die Datenlage. "Jetzt kann ich meine Eindrücke auch mit Zahlen belegen", so Daniel. 

Diese Zahlen kommen aus einer Erhebung, die Peter Eisner vom Fraunhofer IVV in Freising zusammen mit Hannelore Daniel erstellt hat. Im Auftrag des BMBF hat sich das Team um Eisner und Daniel den privaten Lebensmittelsektor und die öffentliche Ernährungsforschung angesehen, Statistiken ausgewertet, Experteninterviews geführt und eine Online-Befragung konzipiert. In dieser Bandbreite wurde der "Innovationssektor Lebensmittel Ernährung“ bisher noch nicht durchleuchtet: angefangen von einer Übersicht über die wirtschaftliche und akademische Forschungslandschaft über das Studienangebot, die Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses, die industrielle Wertschöpfung bis hin zu aktuellen Trends und Märkten sowie staatlichen Rahmenbedingungen.

Hintergrund
Die Studie wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) vom Fraunhofer IVV sowie der TU München, Wissenschaftszentrum Weihenstephan, erstellt.

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Anlagen der Studie: PDF-Download

Mittelständisch geprägte Unternehmenslandschaft mit niedriger F&E-Quote

Die Bestandsaufnahme, bei der Material aus unterschiedlichsten Quellen zusammengetragen wurde, zeigt zunächst, wie groß die Branche ist: Nach Angaben des Bundesverbandes der Ernährungsindustrie (BVE) haben die rund 5.800 Unternehmen im Jahr 2009 etwa 585.000 Mitarbeiter beschäftigt. Erhebungen des Statistischen Bundesamts machen dabei deutlich, dass neun von zehn Betrieben im Ernährungsgewerbe weniger als 250 Mitarbeiter beschäftigen und damit unter die Definition eines kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) fallen. Diese stellen dabei zu 50 Prozent die Arbeitskräfte der Branche, erwirtschaften allerdings nur 36% des Branchenumsatzes. Den restlichen Umsatz teilen sich Unternehmen mit 250 bis 999 Mitarbeitern (ein Drittel) sowie Großkonzerne mit mehr als 1000 Mitarbeitern (ein Drittel). Zu letzteren gehören zum Beispiel die Oetker-Gruppe oder Südzucker. Obwohl diese großen Firmen zahlenmäßig die mit Abstand kleinste Gruppe im Ernährungsgewerbe stellen (1,3%), beschäftigen sie 19 Prozent der Arbeitskräfte.

Überrascht hat die Studienautoren, dass die Branche trotz ihrer Größe nur ein geringes Maß an Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) aufweist. So hat die Studie für den Zeitraum von 2005 bis 2009 jährliche Forschungsausgaben von rund 330 Millionen Euro ermittelt. Bei einem Jahresumsatz von rund 150 Milliarden Euro errechnet sich für das Jahr 2008 damit ein magerer Forschungsanteil von 0,21 Prozent. Anderen großen deutschen Branchen, etwa der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der Chemieindustrie, ist die Forschung weitaus wichtiger, so das Fazit der Autoren.

Trend: Funktionelle Lebensmittel

Innerhalb des Lebensmittelsektors sind die Gelder allerdings ungleich verteilt: So nehmen die internationalen Großkonzerne wie Danisco, Nestlé oder Unilever zwei Prozent ihres Umsatzes für die Forschung in die Hand. Die großen Unternehmen sind dabei für 63 Prozent der F&E-Aufwendungen des gesamten Sektors verantwortlich, die  KMUs hingegen nur für 9,3  Prozent. Wie unterschiedlich die Budgets verteilt sind, zeigt auch das Beispiel Nestlé. Der Schweizer Konzern hat allein im Jahr 2008 mit insgesamt 1,3 Milliarden Euro ein Vielfaches der gesamten deutschen Lebensmittelindustrie in die Forschung investiert. Der Trend geht dabei klar in Richtung funktionelle Lebensmittel. Bis 2001, so die Autoren, war der Markt für Produkte mit gesundheitlichem Zusatznutzen in Deutschland noch deutlich weniger entwickelt als in Japan oder den USA. Das hat sich inzwischen geändert. Während im Jahr 2001 der deutschlandweite Marktanteil derartiger Produkte lediglich bei 1,5 Prozent lag, ist er 2009 auf 3,5 Prozent gestiegen – mit weiterem Wachstumspotenzial für die nächsten Jahre.

Vor der Zulassung eines neuen Lebensmittels sind umfangreiche Sicherheitsstudien notwendig. Kleinere Unternehmen können die oft nicht stemmen.Lightbox-Link
Vor der Zulassung eines neuen Lebensmittels sind umfangreiche Sicherheitsstudien notwendig. Kleinere Unternehmen können die oft nicht stemmen.Quelle: michael hirschka / pixelio.de

Neben dem Faktor Gesundheit spielen aber auch die Faktoren Convenience und Genuss bei der Entwicklung neuer Lebensmittel eine wichtige Rolle. Als weitere Trends identifiziert die Studie zum Beispiel „Individualisierte Ernährung“, also Lebensmittel für eine spezielle Zielgruppe – etwa Sportler oder Patienten, die an einer bestimmten Erkrankung leiden. Gerade Produkte für Sportler hätten sich von einem reinen Nischenphänomen vielfach zu einem Lifestyle-Segment entwickelt, das zweistellige Wachstumsraten vorweisen kann, so die Studie. Eine immer größere Nachfrage würde aber auch nach sogenanntem „Chilled Food“ bestehen, also nach Produkten wie Smoothies, Antipasti oder Feinkostalate, die sehr frisch, begrenzt haltbar und meist küchenfertig zubereitet sind. Allein von 2006 bis 2007 stieg der Umsatz mit Chilled Food-Produkten in Deutschland um sieben Prozent von 2,8 Milliarden Euro auf rund 3 Milliarden Euro.

Insgesamt sehen die Autoren jedoch erheblichen Nachholebedarf, was die Forschungsintensität in der deutschen Lebensmittelindustrie angeht. "Die Firmen wissen oft gar nicht, welche Möglichkeiten es bei Forschungskooperationen gibt", sagt Eisner mit Blick auf die breite akademische Forschungslandschaft. Innovativ seien deutsche Unternehmen vor allem in der Verschlankung des Herstellungsprozesses. "Hohe Qualität zu niedrigen Kosten produzieren, hier haben einige Firmen ihre Hausaufgaben gemacht", so Eisner. Wenn es um die Einführung von neuartigen Produkten wie etwa funktionellen Lebensmitteln gehe, sei die mittelständisch geprägte Struktur allerdings ein Hindernis. "Kleine Unternehmen können sich eine Humanstudie für einen neues Lebensmittel alleine gar nicht leisten", so Eisners Einschätzung. Seit 1997 verlangt die EU bei der Einführung neuartiger Lebensmittel umfangreiche Sicherheitsstudien.

Vernetzung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft stärken

Abhilfe kann nach Ansicht der Studienautoren eine stärkere Vernetzung schaffen. Unternehmen sollten stärker miteinander kooperieren und Forschungsprojekte mit akademischen Partnern anstrengen. "Jedenfalls war das einer der Punkte, die am häufigsten von den Wissenschaftlern genannt wurde: der Wunsch nach mehr Kommunikation, Koordination und vor allem Kooperation zwischen den einzelnen Standorten", sagt Eisner. Mit einer Akkumulierung von Kräften und Mitteln könnten international sichtbare Spitzenforschung betrieben werden, die auch für Nachwuchswissenschaftler interessant ist. "Die Hälfte meiner Doktoranden sitzt im Ausland", sagt auch Professorin Daniel, "die forschen bei Unilever oder Nestlé".

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Neben einer Bestandsaufnahme der Unternehmenslandschaft gibt die Studie erstmals auch einen Gesamtüberblick  über die akademische Forschungssituation in den Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften. Ähnlich wie in der Industrie zeigt sich hier ein zersplittertes Feld, da es viele kleine Standorte gibt, die über die ganze Republik verteilt sind. Nach Angaben der Autoren wird in den Bereichen Lebensmittel und Ernährung an insgesamt 19 Universitäten und 15 Fachhochschulen gearbeitet, wobei verschiedenste Fachgebiete von der Lebensmitteltechnologie und –verfahrenstechnik über die Lebensmittelchemie bis hin zur Lebensmitteltoxikologie, Biochemie, Ernährungsphysiologie und Humanernährung abgedeckt werden. Während an den Universitäten die ganze Bandbreite der Ernährungsforschung zu finden ist, besitzt die Forschung in den Ernährungswissenschaften an den Fachhochschulen laut Studie keine sehr große Bedeutung. Hier werden vor allem Themen im Bereich Gesundheitsmanagement, Verbraucheraufklärung (insbesondere zu Adipositas bei Kindern und Jugendlichen) sowie Essstörungen bearbeitet.

Die Qualität der deutschen Forschung wird von den Wissenschaftlern selbst als überwiegend gut bewertet. "Viele Wissenschaftler haben uns gesagt, und dieser Meinung bin ich auch, dass die Stellung der deutschen Forschung so schlecht gar nicht ist", sagt Peter Eisner. Auch die Vertreter der Wirtschaft bewerten die Ernährungs- und Lebensmittelforschung in Deutschland als gut und solide. International steht Deutschland bei der Zahl der wissenschaftlichen Publikationen in den Lebensmittelwissenschaften an siebter Stelle und in den Ernährungswissenschaften an fünfter.

Außeruniversitäre Forschung in der Pflicht

Trotzdem sehen die Studienautoren einige Verbesserungsmöglichkeiten. Hannelore Daniel schlägt einen zweigleisigen Ansatz vor, um die Stellung der Disziplin zu stärken. Als wichtige Kristallisationskeime sollten Institute entstehen, die eine kritische Masse von Wissenschaftlern an einem Ort versammeln. Hier sehen die Autoren besonders die außeruniversitären Forschungsorganisationen in der Pflicht. Bisher gebe es nur das deutsche Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke, ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, sowie das Helmholtz-Zentrum München, das sich unter anderem auch mit ernährungsbedingten Krankheiten wie Diabetes beschäftigt. Ansonsten würden Großforschungsinstitute in dem Bereich aber fehlen, konstatiert die Studie. "Hier hofft man auf ein klares Bekenntnis der Max-Planck-Gesellschaft", sagt Daniel mit Blick darauf, dass keine der mehr als 80 Forschungseinrichtungen der MPG auf die Erforschung von Lebensmitteln oder Ernährung ausgerichtet ist. Ausgehend von derartigen außeruniversitären Kristallisationskeimen könnten sich dann auch zusätzlich immer wieder veränderbare virtuelle Cluster bilden, die mit gemeinsamen Ressourcen, aber nicht am gleichen Ort, ein Forschungsthema bearbeiten, so die Studienautoren.

Fördermöglichkeiten
Sie wollen sich über Fördermöglichkeiten in der Ernährungs- und Lebensmittelforschung informieren? Dann schauen Sie auf der Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) vorbei.

mehr Infos: hier klicken

Im Rahmen der Studie wurde erstmals auch analysiert, wieviele öffentliche Fördermittel dem Sektor in den letzten Jahren zugeflossen sind – insbesondere durch die Initiativen der unterschiedlichen Bundesministerien. Demnach unterstützt zum Beispiel das BMBF seit 1999 die Ernährungsforschung im Rahmen des Biotechnologieprogramms. Dabei wurden und werden von 1999 bis 2015 einzelne Maßnahmen ins Leben gerufen, u.a. die „Funktionelle Ernährungsforschung“, die „Biomedizinische Ernährungsforschung“, die „Kompetenznetze der Agrar- und Ernährungsforschung“ sowie „Innovationen und neue Ideen für den Ernährungssektor“. Für Verbund- und Einzelprojekte stehen in diesem Zusammenhang Fördergelder in Höhe von rund 90 Millionen Euro zur Verfügung. 

Darüber hinaus wird das Thema Ernährung aber auch in Förderinitiativen zur Gesundheitsforschung aufgegriffen. Hier unterstützt das BMBF zum Beispiel die krankheitsbezogenen Kompetenznetze „Adipositas“ und „Diabetes“, das „Medizinische Genomforschungsnetz Adipositas“ und das „Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum für Adipositas-Erkrankungen“. Hinzu kommen Projekte mit Ernährungsbezug unter dem Dach der Förderschwerpunkte „Präventionsforschung“, „Gesundheit im Alter“, „Psychotherapie“ und „Langzeituntersuchungen“. Die Fördermittel für alle diese BMBF-Maßnahmen, die im Zusammenhang mit Ernährungsaspekten stehen, belaufen sich seit 2002 auf insgesamt rund 77 Millionen Euro. Das entspricht im Durchschnitt rund 5,5 Millionen Euro pro Jahr im Förderzeitraum von 2002 bis 2015. Die gesamte Projektfördersumme für die Ernährungsforschung beträgt damit rund 11,5 Millionen Euro pro Jahr (6 Millionen Euro für direkte Projekte im Bereich der Ernährungsforschung und 5,5 Millionen Euro für Projekte in der Gesundheitsforschung mit Ernährungsbezug). 

Mit der bloßen Faktenerhebung gibt sich die Studie aber nicht zufrieden. Die Autoren geben auch dezidierte Handlungsempfehlungen. Im besten Fall „tritt die Studie eine Diskussion in Wissenschaft, Politik und Industrie los", sagt Peter Eisner. "Toll wäre es, wenn wir es schaffen, Unternehmen zu mehr Forschung zu animieren". Daniel hofft auf einen langfristigen Kulturwandel auch in der Gesellschaft: "Bisher wird das Forschungsfeld Ernährung und Lebensmittel als wissenschaftlich nicht bedeutend gesehen. Das muss sich ändern."

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Studie zum Innovationssektor Lebensmittel und Ernährung

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Studie zum Innovationssektor Lebensmittel und Ernährung - Anlagen

2010, Fraunhofer IVV; TU München, Wissenschaftszentrum Weihenstephan Download PDF (5,1 MB) PDF online ansehen