Vorbild Muschel: Innen Gummi, außen Stahl
11.03.2010 -
Wo Muscheln leben, geht es oft recht rauh zu. Damit die Schalentiere von der Wucht der Brandung nicht mitgerissen werden, sind sie durch Fäden fest mit dem Untergrund verankert. Diese Muschelseide ist ein außergewöhnliches Material. Es ist nicht nur äußerst dehnbar, sondern gleichzeitig so stabil, dass die dünnen Fäden auf den scharfkantigen Felsen nicht durchscheuern. Forscher am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam haben gemeinsam mit Kollegen aus Kalifornien und Chicago herausgefunden, wie der Abriebschutz funktioniert. Mit der raffinierten Technik könnten neuartige Beschichtungen entstehen, berichten die Forscher in Science (Online-Veröffentlichung, 4. März 2010).
Muschelseide, auch Byssus genannt, war seit der Antike ein begehrter Rohstoff. Die goldglänzenden Fäden, mit denen sich zum Beispiel die Edle Steckmuschel am Grund des Mittelmeers verankert, ergeben ein sehr dünnes und haltbares Gewebe, aus dem kostbare Kunstwerke wie der Schleier von Manoppello entstanden.
Allerdings liefert eine Muschel nur etwa 1 bis 2 Gramm Rohbyssus, für ein Kilogramm müssen bis zu 4000 Tiere geerntet werden. Weil bei der Edlen Steckmuschel die Fäden besonders lang werden, grundsätzlich verankern sich aber auch viele andere Muschelarten auf die gleiche Weise am Untergrund. So können sie auch in Zonen mit starker Strömung leben und dort Nährstoffe aus dem vorbeiströmenden Wasser filtern. Muscheln und ihre Bodenhaftung sind für Bionik-forscher auch in anderer Hinsciht interessant. Ingo Grunwald will am Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und angewandte Materialforschung in Bremen den Klebstoff der Muscheln für die Technik nutzbar machen (mehr...). Seine Arbeit wird auf der DVD "Industrielle Biotechnologie - Neue Wege für die Chemieindustrie" vorgestellt, die im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Jahr 2008 entstanden ist (mehr...).
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Knubbel mit Eisenfüllung
Muschelseide vereint zwei nützliche Eigenschaften. "Diese Fasern sind erstaunlich dehnbar," sagt Peter Fratzl, Direktor der Abteilung Biomaterialien am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung. Fratzl ist einer von vier Biowissenschaftlern, die 2010 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis geehrt werden (mehr...). Wenn eine große Welle die Muschel mitzureißen droht, können sich die Fäden bis zur doppelten Länge dehnen. "Nach der Welle ziehen sie sich dann wieder zusammen", sagt Fratzl. Gleichzeitig sind die Fasern sehr robust. Das liegt an einer speziellen Panzerung, die an Sandpapier erinnert. Wie diese Schutzschicht genau aufgebaut ist, haben die Max-Planck-Forscher nun zusammen mit Kollegen der Universitäten von Kalifornien und Chicago analysiert.
Eine genaue Untersuchung der Muschelfäden unter dem Mikroskop zeigte dabei, dass ihre Oberfläche aus vielen kleinen Knubbeln besteht. Die einzelnen Körnchen sind weniger als ein Tausendstel Millimeter groß. In ihnen befinden sich Eisenionen, die sich durch ihre negative Ladung jeweils mit zwei oder drei speziellen und positiv geladenen Eiweißmolekülen verbinden. Diese Verbindung ist so stabil, dass die Körnchen dem Faden eine hohe Abriebfestigkeit verleihen.
Sie verhindern, dass die Fasern an scharfkantigen Felsen durchgescheuert werden. Zwischen den Knubbeln ist die Dichte an eingeschlossenen Eisen-Ionen geringer. Das Eiweiß-Material ist deshalb an dieser Stelle stark dehnbar. Zerrt nun eine Welle an den Fäden, gehen die Fäden bis zu einer bestimmten Dehnung mit. Doch wird die Kraft zu gewaltig, drohen die Fäden zu reißen. In diesem Fall greift die Muschel in die Trickkiste. Bei übermäßiger Beanspruchung löst sich der Eisen-Eiweiß-Verband in den Knubbeln auf. Das erhöht die Elastizität der Fäden noch einmal enorm. Ein dauerhafter Schaden wird vermieden. "Hinterher, wenn die Fäden wieder geschrumpft sind, können die Metallatome wieder in ihre Fassungen springen", erklärt Fratzl.
Biomaterialien am MPI Potsdam |
Matthew Harrington erforscht selbstheilende Biofasern in der von Peter Fratzl geleiteten Abteilung Biomaterialien am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam. Zu Matthew Harrington am MPI: hier klicken Zur Abteilung Biomaterialien: hier klicken |
Wunden mit Muschelfäden vernähen
Das regenerierbare Material fasziniert die Forscher. "Die Natur hat eine elegante Methode für ein Problem entwickelt, mit der Ingenieure noch immer kämpfen: Sie hat Eigenschaften, die einen Abrieb verhindern und dennoch eine hohe Dehnbarkeit gewährleisten, in einem Material vereinigt", sagt Fratzl voller Bewunderung. Offensichtlich erreicht die Schutzschicht der Muschelseide dies durch eine sorgfältige, maßgeschneiderte Verbindung von Metall und Eiweiß. "Es ist denkbar, dass ähnliche Strategien auf technisch entwickelte Polymerschutzschichten angewendet werden können."
Matthew Harrington, der als Humboldt-Stipendiat am Max-Planck-Institut an der Studie beteiligt war, könnte sich eine technische Anwendung des natürlichen Vorbilds ebenfalls gut vorstellen. "Es gibt es nur wenige Polymere oder Zusammensetzungen, die diese Materialeigenschaften vereinen." So könnten Wunden einmal mit derartig beschichteten Fäden vernäht werden. Und auch die Industrie könnte profitieren. "Schutzbeschichtungen sind extrem wichtig für die Haltbarkeit von Materialien und Geräten." Allerdings ist es bis zum Nachbau des Materials noch ein weiter Weg. "Uns geht es erst einmal darum, die Natur zu verstehen", sagt Fratzl.