Tschernobyl: Mutierte Bäume gedeihen in Todeszone
26.04.2011 -
Sie sind die lebendigen Zeitzeugen in der sogenannten Todeszone von Tschernobyl: Die Kiefern rund um das explodierte Atomkraftwerk. Am 26. April 1986 änderten sich die Umweltbedingungen für die Pflanzen schlagartig. Forstgenetiker der Universität Göttingen haben untersucht, wie sich die extreme Strahlenbelastung auf die Kiefern ausgewirkt hat. Wie sie in der Fachzeitschrift Environmental Pollution (2011, Bd. 159, S.1606) berichten, haben die Bäume sehr unterschiedlich auf die hohen Strahlendosen reagiert; einige Kiefern wurden erwartungsgemäß krank, während andere sich trotz zahlreicher Erbgut-Mutationen überraschend gut anpassen konnten.
Welche Folgen eine hohe Dosis radioaktiver Strahlung auf Lebewesen hat, beschäftigt Strahlenbiologen schon lange. Ihr besonderes Augenmerk gilt dabei der Auswirkung der Strahlung auf unsere Erbinformation. Ionisierende Strahlung schädigt die DNA direkt, in dem sie schwerwiegende Brüche im doppelsträngigen Erbmolekül auslöst.
Desweiteren ist die Energie von ionisierender Strahlung so hoch, das sie aus Atomen und Molekülen der Zelle Elektronen heraussprengt. Dabei entstehen elektrisch geladene Teilchen, die als freie Radikale weiteren Schaden anrichten. Bis zu einer bestimmten Dosis können zelluläre Reparaturmechanismen die schlimmsten Schäden eindämmen und tolerieren. Dennoch sammeln sich verstärkt Mutationen im Genom an, die etwa zu Krebs und anderen Krankheiten führen können. In einigen Fällen können solche Erbgutveränderungen auch an die Nachkommen vererbt werden. Pflanzenzüchter machen sich diesen Effekt ionisierender Strahlung schon seit langem zunutze, um Gewächse mit neuen Eigenschaften zu züchten.
Erbgutanalyse bei den Kiefern in der Sperrzone
25 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl wollten Forstgenetiker von der Universität Göttingen wissen, welche genetischen Veränderungen die direkt vor Ort wachsenden Bäume als Reaktionen auf die hohe radioaktive Strahlung angesammelt haben. Zusammen mit Kollegen aus der Ukraine haben die Göttinger Forscher um Reiner Finkeldey zum einen Kiefern untersucht, die bereits lange vor dem Unfall in der Nähe des Reaktors gepflanzt wurden und daher direkt nach der Reaktorkatastrophe einer hohen akuten Strahlung ausgesetzt waren. Zum anderen wurden Bäume analysiert, die nach dem Unfall in unmittelbarer Umgebung des Reaktors auf verstrahlten Böden gepflanzt wurden. Als Vergleichsbäume dienten jeweils gleichaltrige Kiefern gleichen Ursprungs, die in unbelasteten Gebieten der Ukraine wachsen. Ergebnis: Die Kiefern um Tschernobyl wachsen generell langsamer und zeigen vielfältige Abweichungen vom normalen Wuchs eines Nadelbaums, wie beispielsweise Nadelverfärbungen oder geänderte Verzweigungsmuster. Allerdings reagieren die Bäume offenbar sehr unterschiedlich auf die Strahlung. Einige Pflanzen zeigen keine oder nur geringe Krankheitssymptome, bei anderen treten diese gehäuft auf. Viele Pflanzen können sich gar nicht anpassen und sterben ab.
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Schutzmechanismen aktiviert
Bei den Kiefern rund um den Reaktor konnten die Forstgenetiker zudem erhöhte Mutationsraten nachweisen. Aber auch andere genetische Prozesse veränderten sich durch die hohe Radioaktivität. So wurde bei Genen, denen eine Bedeutung für Anpassungsprozesse an allgemeinen Stress und an erhöhte Strahlung zugeordnet wird, eine erhöhte Aktivität beobachtet. Diese kann für die Pflanzenzellen einen verbesserten Schutz bewirken. Zudem fanden die Forscher heraus, dass sich die strahlungsempfindliche Erbsubstanz (DNA) im Zellkern bis zu einem gewissen Grad selbst vor Radioaktivität schützen kann. „Für uns war es sehr überraschend, dass wir an vielen Regionen des Genoms der Kiefer Veränderungen beobachten konnten, die offenbar als Anpassung auf die erhöhte Strahlung zu sehen sind“, so Reiner Finkeldey. Die Untersuchungen ergaben auffällige Unterschiede in den genetischen Strukturen der untersuchten Kiefernbestände. Je nach ihrer genetischen Konstitution sind die Bäume unterschiedlich gut an erhöhte Strahlung angepasst. Die plötzliche Umweltveränderung durch die Explosion des Reaktors setzt nach Ansicht der Forscher Ausleseprozesse in Gang, die auch bei so langlebigen Organismen wie Waldbäumen relativ kurzfristig eine verbesserte Anpassung bewirken.