Den Volkskrankheiten auf die Spur kommen
18.11.2008 -
Um Volkskrankheiten in Zukunft schon früher diagnostizieren zu können, will die Helmholtz-Gemeinschaft eine Studie in nie dagewesenem Ausmaß durchführen. Im Rahmen der „Helmholtz-Kohorte“ werden – wenn alles nach Plan läuft - insgesamt 200.000 Menschen im Alter von 20 bis 70 Jahren aus ganz Deutschland über einen Zeitraum von 20 Jahren kontinuierlich beobachtet und analysiert. Die Forscher haben dabei vor allem Herz-Kreislauferkrankungen, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, häufige Krebsformen sowie neurodegenerative Erkrankungen im Blick.
Mit der präventiven Medizin ist es bislang nicht weit her. „Dieses Feld wird noch vernachlässigt. Wenn wir heute eine Krankheit diagnostizieren, dann hat sie beim Patienten oftmals bereits irreparablen Schaden angerichtet“, stellte Otmar Wiestler, Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg, am 13. November in Berlin fest. Die Helmholtz-Gemeinschaft, zu der neben dem DKFZ rund 15 weitere außeruniversitäre Forschungseinrichtungen gehören, hatte erstmals zum Helmholtz-Forum geladen, einer
neuen Veranstaltungsreihe, die Wissenschaft und Politik zusammenführen soll. Zum Auftakt waren rund 100 Besucher gekommen, um über das Thema präventive Medizin zu diskutieren.
200.000 Menschen über 20 Jahre hinweg beobachten
Wichtigstes Thema des Tages war hierbei die sogenannte „Helmholtz-Kohorte“, für deren Aufbau die Helmholtz-Gemeinschaft eine Anschubfinanzierung von 20 Millionen Euro gewährt. Wiestler nennt die Kohorte ein „ehrgeiziges Projekt“. Wird sie tatsächlich realisiert, wäre sie die größte Bevölkerungsstudie, die jemals von deutschen Biowissenschaftlern durchgeführt wurde: Insgesamt 200.000 Menschen im Alter von 20 bis 70 Jahren aus ganz Deutschland sollen über einen Zeitraum von 20 Jahren kontinuierlich beobachtet und analysiert werden. Von besonderem Interesse sind dabei diejenigen Personen, die während des Untersuchungszeitraumes eine Krankheit entwickeln: Dann können die Forscher rückblickend nach Indizien suchen, die womöglich im „gesunden Zeitraum“ bereits auf die Krankheit hingedeutet haben.
Die Forscher haben dabei vor allem Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauferkrankungen, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, häufige Krebsformen sowie neurodegenerative Erkrankungen im Blick, bei denen ein komplexes Wechselspiel mehrerer Gründe zum Ausbruch der Krankheit führen. Auf der Basis der groß angelegten Studie erhoffen sie sich Einblicke in genetische und umweltbedingte Risikofaktoren, die schon vor ersten sichtbaren Symptomen erkennbar sind. „Wir müssen bei den Gesunden so früh wie möglich erkennen, welches individuelle Krankheitsrisiko sie in sich tragen“, betonte Wiestler in Berlin. Erich Wichmann, Kopf der Initiative und renommierter Epidemiologe am Helmholtz-Zentrum München, fügte hinzu: „Der Arzt sieht erst den Kranken, doch die Krankheiten beginnen beim Gesunden.“
Gene mit Lebensstil verknüpfen
Diese Erkenntnis ist nicht neu, doch erst jetzt stehen den Wissenschaftlern die Mittel zur Verfügung, gezielt nach Risikofaktoren zu suchen: im Erbgut, im Blut, im Urin oder auch im Gewebe, wenn der Studienteilnehmer erkrankt ist. Mittels neuester Techniken der modernen Molekularbiologie sollen diese Proben bis in die Grundelemente zerlegt und diese Ergebnisse mit Umweltfaktoren verknüpft werden. „Uns interessiert besonders die Interaktion zwischen Genen und Lebensstil“, erläuterte Wichmann. Langfristig, so jedenfalls die Hoffnung, könnten dann Biomarker gefunden werden, auf deren Basis sich Krankheiten bereits vorbeugend – also präventiv – behandeln lassen, lange bevor überhaupt erste Symptome auftreten. Hier die wichtigen von den weniger wichtigen zu trennen, gleicht dem Suchen einer Nadel im Heuhaufen. „Nur mit wirklich großen Studien lassen sich verlässliche Aussagen treffen“, ist Wichmann überzeugt. Denn hier ist die Chance groß, dass sich Faktoren auch als wichtig bei einer ausreichenden Anzahl von Personen bestätigen lassen.
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Verteilung der Kosten noch unklar
Noch ist allerdings nicht klar, wie die Kosten der „Helmholtz-Kohorte“ verteilt werden. Zudem ist die Studie ein Langzeitprojekt, das einen langen Atem verlangt. Allein für die ersten acht Jahre - inklusive dreijähriger Pilotphase und fünfjähriger Rekrutierungsphase – veranschlagt Wichmann rund 160 Millionen Euro. Aber auch die gesamte Organisation einer deutschlandweiten Studie steht noch am Anfang. Ende November findet ein erster Workshop statt, um über die Helmholtz-Gemeinschaft hinaus wissenschaftliche Partner aus ganz Deutschland einzubinden. „Das Interesse ist enorm“, betonte Wichmann beim Helmholtz-Forum in Berlin. So hätten nicht nur sehr viele Universitäten, sondern auch eine ganze Reihe von Max-Planck-Instituten bereits Interesse signalisiert. Für Dezember ist zudem eine Präsentation des Projekts im Gesundheitsforschungsrat des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geplant. Langfristig hält Wichmann auch die Einbindung für Unternehmen denkbar, schließlich sollen die Ergebnisse irgendwann tatsächlich zu klinisch relevanten Biomarkern führen, die als Ausgangsbasis für neue Therapien dienen.
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Doch nicht alle zeigen sich in dieser Hinsicht ähnlich begeistert vom Helmholtz-Projekt wie die Wissenschaft. „Deutschlands Bevölkerung ist zu unterschiedlich zusammengesetzt, als dass eine solche große und teure Studie sinnvoll ist“, sagte etwa Jürgen Schwiezer, Chef von Roche Diagnostics, am Rande des Helmholtz-Forums. Aus seiner Sicht sind derartige Projekte eher in Ländern mit kleinen, homogenen Bevölkerungen wie Island besser aufgehoben. „Dort wurden solche Studien ja bereits vor Jahren gestartet. Und sie zeigen, wie schwer es ist, Projekte in dieser Größenordnung über einen langen Zeitraum überhaupt durchzuführen“, so der Unternehmer.
Wichmann hält die Helmholtz-Kohorte dennoch für wichtig. „Mit der Heterogenität der Teilnehmer können wir aufgrund der Größe der Studie umgehen“, ist er überzeugt. Für ihn ist eine solche Investition zudem Standortpolitik für die Wissenschaft: „Wenn wir auf diesem Gebiet der Forschung langfristig mithalten wollen, dann müssen wir das in Angriff nehmen.“ Vor überzogenen Erwartungen warnt er allerdings auch. „Bis wir erste verwertbare Ergebnisse haben, werden noch viele Jahre vergehen.“ Bis dahin werde man sich weiter auf bestehende Ressourcen stützen, etwa die seit 1985 laufende KORA-Studie mit 18.000 Personen zwischen 25 und 74 Jahren aus dem Raum Augsburg.