Nervenleiden mithilfe von reprogrammierten Stammzellen erforscht

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Die Bonner Forscher haben Hautzellen zu Nervenzellen umprogrammiert, um eine seltene neurologische Erkrankung zu untersuchen. Quelle: Brüstle

01.12.2011  - 

Nach dem Ende des europäischen Rechtsstreits um Stammzellpatente sorgt der Bonner Forscher Oliver Brüstle einmal mehr mit Forschungsnachrichten für Schlagzeilen. Brüstles Team am Forschungszentrum Life & Brain ist es gelungen, eine seltene neurodegenerative Erkrankung im Labor zu studieren. Die Forscher nutzten dazu reprogrammierte Körperzellen von Patienten der Machado-Joseph-Erkrankung , einer erblichen Bewegungsstörung. Mit Hilfe der künstlich induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) haben die Forscher funktionierende Nervenzellen gewonnen und in der Petrischale untersucht. Über ihre Ergebnisse berichten die Forscher in der Fachzeitschrift Nature (2011, Online-Vorabveröffentlichung).

Neurodegenerative Erkrankungen lassen sich im Labor nur schwer erforschen. Tiermodelle, die komplexe Krankheiten wie Alzheimer oder Multiple Sklerose nachstellen, sind rar. Und menschliches Gewebe ist nur mit großem Aufwand zu gewinnen. Große Hoffnungen setzen Neuroforscher inzwischen auf Stammzellen. Insbesondere mit der Technik der Reprogrammierung lassen sich aus Körperzellen von Patienten zunächst künstliche Stammzellen (iPS-Zellen) gewinnen, die Forscher dann mit weiteren molekularen Tricks dazu zwingen können, sich in ein bestimmtes Gewebe zu entwickeln.

Dies haben sich die Bonner Forscher um den Neuropathologen Oliver Brüstle nun für die Erforschung der Machado-Joseph-Erkrankung zunutze gemacht. Brüstle gehört zu den Pionieren der Stammzellforschung, sorgte zuletzt aber vor allem außerhalb des Labors für Schlagzeilen: In einem Rechtstreit, der bis vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) getragen wurde, ließ die Umweltschutzorganisation Greenpeace Stammzellpatente Brüstles für nichtig erklären. Der EuGH entschied im Oktober 2011, dass ein Verfahren, das die Zerstörung des Embryos nach sich zieht, von der Patentierung auszuschließen sei (mehr…). Es folgte damit dem Antrag des Generalanwalts Yves Bot (mehr…) und stellte sich gegen die Forderung vieler Forscher (mehr…).

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Bei der Machado-Joseph-Erkrankung, die die Bonner Forscher ins Visier genommen haben,  handelt es sich um eine Störung der Bewegungskoordination, die ursprünglich bei portugiesischstämmigen Bewohnern der Azoren beschrieben wurde und heute die häufigste dominant vererbte Kleinhirn-Ataxie in Deutschland darstellt. Die Mehrzahl der Patienten entwickelt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr Gangstörungen und eine Reihe anderer neurologischer Symptome. Ursache der Erkrankung ist eine sich wiederholende Erbgutsequenz im Gen namens Ataxin-3, die zur Verklumpung des entsprechenden Proteins führt, wodurch schließlich die Nervenzellen im Gehirn geschädigt werden.

Direkt an den betroffenen Zellen forschen

Unklar war bislang, warum die Erkrankung nur Nervenzellen betrifft und wie die abnorme Proteinverklumpung ausgelöst wird. Um den Krankheitsprozess auf molekularer Ebene zu studieren, stellten Bonner Wissenschaftler zunächst aus kleinen Hautproben von Patienten so genannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) her. Es handelt sich dabei um Zellen, die in ein sehr frühes, undifferenziertes Stadium zurückversetzt werden. Diese „Alleskönner“ lassen sich – einmal gewonnen – nahezu uneingeschränkt vermehren und in alle Körperzellen ausreifen. In einem nächsten Schritt wandelte das Team um Brüstle die iPS-Zellen in Gehirnstammzellen um, aus denen die Wissenschaftler beliebig Nervenzellen für ihre Untersuchungen entwickeln konnten. Das Besondere: Da die Nervenzellen aus den Patienten selbst stammen, tragen sie dieselben genetischen Veränderungen und können so als zelluläres Modell der Erkrankung dienen. „Diese Methode erlaubt uns die Erforschung der Erkrankung an den wirklich betroffenen Zellen, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten - fast so, als hätten wir das Gehirn des Patienten in die Zellkulturschale gebracht“, sagt der Erstautor der Studie, Philipp Koch.

Elektrische Reize gesetzt

Stimulierte Koch künstlich geschaffenen Nervenzellen mit elektrischen Reizen, so zeigte sich , dass, die Bildung der Proteinaggregate unmittelbar mit der elektrischen Aktivität der Nervenzellen zusammenhängt. Eine Schlüsselrolle spielt dabei offenbar das Enzym Calpain, das durch den erhöhten Kalziumgehalt stimulierter Nervenzellen aktiviert wird. „Dieser neu identifizierte Mechanismus erklärt, warum die Erkrankung ausschließlich Nervenzellen betrifft“, betont Brüstle. „Die Studie verdeutlicht, welches Potential diese spezielle Art der Stammzellen für die neurologische Krankheitsforschung hat“, sagt Thomas Klockgether, Klinischer Direktor des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und Direktor der Bonner Universitätsklinik für Neurologie, dessen Team in dieser Studie eng mit den Brüstles Team zusammenarbeitete. In einem nächsten Schritt will Brüstle und seine Kollegen von Life & Brain reprogrammierte Nervenzellen für die Entwicklung von Wirkstoffen zur Behandlung neurologischer Erkrankungen einsetzen.

© biotechnologie.de/pg

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