Wandelbarer Kunststoff mit gutem Gedächtnis
30.11.2006 -
Ein Gummiband, das gedehnt und wieder losgelassen wird, springt sofort in seine ursprüngliche Form zurück. Diesen Effekt hat sich Andreas Lendlein vom GKSS Forschungszentrum in Teltow auch für Biomaterialien zunutze gemacht und Kunststoffe so programmiert, dass sie sich auf Kommando von einer Gestalt in eine andere verformen. Bereits vor vier Jahren faszinierte der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem BioFuture-Preis ausgezeichnete Forscher die Fachwelt mit einem Nahtmaterial, das sich bei einer bestimmten Temperatur selbst zu einem Knoten zusammenzieht. Im vergangenen Jahr wiederum hatte Lendlein eine Methode entwickelt, mit der sich ein Kunststoff allein durch das Einwirken von Licht in eine vorher bestimmte Position bringen ließ. Jetzt ist er wieder einen Schritt weiter: Gemeinsam mit amerikanischen Kollegen berichtet er im Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS, 20. November Online) über einen Kunststoff, der sich bei zunehmender Hitze in zwei verschiedene Formen verwandelt.
Eine Anwendung dieses neuen Materials ist beispielsweise in der Medizintechnik denkbar: Aus dem Kunststoff ließen sich etwa intelligente, kleine Stützen herstellen, die in verengten Blutgefäßen auf Kommando für den nötigen Platz sorgen. „Solche Stents könnten zunächst als kleines Hilftsmittel in den Körper eingebracht werden. Dort entfaltet sich der Kunststoff, erfüllt seine Aufgabe und wird anschließend zu einer leicht aus dem Körper entfernbaren Form komprimiert“, schwärmt Lendlein, Direktor des GKSS-Zentrums für Biomaterialentwicklung. Abgesehen davon könnte das sich selbst verformende Material auch für Befestigungshaken in der Montagetechnologie eingesetzt werden, die zunächst ihre Anker selbst ausrichten, bevor sie in eine genau definierte Position einrasten.
Wird dieses Plastikteil zunehmender Wärme ausgesetzt, klappt es auf und verhakt sich von selbst. Film ansehen Quelle: GKSS
Wie Lendlein gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen Robert Langer vom Massachusetts Institute for Technology (MIT) in Cambridge im Fachmagazin PNAS (20. November, Onlineausgabe) berichten, besteht das neue Material aus einem ausgeklügelten Netzwerk zweier Polymere. Diese langen Molekülketten sind bei Raumtemperatur starr und werden erst durch eine jeweils andere Temperatur elastisch und verformbar. Die Forscher entwickelten dabei nun eine Technik, mit der sich die Polymere von einem Zustand A in einen Zustand B und dann nochmals in einen Zustand C verwandeln lassen – allein durch das Einwirken steigender Temperaturen.
Dieses Teil wird bei Wärmezufuhr wie von Geisterhand größer und dann wieder kleiner. Film ansehen Quelle: GKSS
Damit die Molekülketten diese Art von „Formgedächtnis“ erreichen und „wissen“, in welche Gestalt sie sich verformen sollen, haben die Forscher um Lendlein ein ausgeklügeltes Verfahren entwickelt, das als zweistufige Rückwärts-Programmierung funktioniert: Zunächst erhitzten die Forscher den Kunststoff so stark, dass er sich komplett verformen ließ. Dann legten sie die Basis für die Erinnerung und brachten den Kunststoff in die Gestalt, die er im zweiten Schritt einnehmen soll (Zustand C). Im Anschluss kühlten sie das Material soweit ab, dass eine der beiden Polymersorten erstarrte. Nun modellierten die Forscher den Kunststoff ein weiteres Mal – und verliehen ihm damit die Erinnerung für die zweite Form, die er zuerst annehmen soll (Zustand B). Beim anschließenden Abkühlen gelangt der Kunststoff letztlich in die Ausgangsform (Zustand A). Wenn dieses so bearbeitete Material nun sukkzessive erhitzt wird, wandelt es sich von allein von Zustand A über B nach C – so wie ein Gummiband zurückschnippt, wenn es nach dem Dehnen losgelassen wird.
Lendlein hat mit seinen Forschungsarbeiten schon mehrfach im Mittelpunkt gestanden, zuletzt wurde er in die "Elf der Wissenschaft" gewählt. Mehr
Der erst 37-jährige Lendlein hält bereits rund 30 Patente, hat eine eigene Firma gegründet und mit seinen Entdeckungen schon mehrfach die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So gewann er als erster deutscher Wissenschaftler im Jahr 2005 den World Technology Network Award, mit dem jährlich die weltweit innovativsten Menschen in wissens- und technologiebasierten Gebieten ausgezeichnet werden. Im Jahr 2002 wurde er als einer der 100 besten Innovatoren im Technology Review Magazin des Massachusettes Institute of Technology (MIT), Cambridge, auserkoren. Zudem gehört Lendlein zu jenen deutschen Nachwuchsforschern, die im Rahmen des BioFuture-Programms des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) fünf Jahre lang eine großzügige finanzielle Unterstützung erhielten, um sich eine eigene Forschungsgruppe aufbauen zu können.
Vor vier Jahren begeisterte Lendlein die Fachwelt das erste Mal mit einem Nahtmaterial, das sich selbst zu einem Knoten zusammenzieht und nach der Heilung vom Körper abgebaut wird (Science, 25. April 2002). Das könnte helfen, weitere Operationen zu vermeiden. Materialien dieser Art sind aber auch als Medikamenten-Depots denkbar, die – einmal an die gewünschte Stelle implantiert – dort ferngesteuert ihre Inhalte ausschütten. Derzeit entwickelt Lendlein diese Art von Kunstoffen in seiner Firma mnemoScience GmbH für eine kommerzielle Anwendung. Vor einem Jahr wiederum hatte der Forscher eine Methode entwickelt, mit der sich die Formverwandlung durch das Einwirken von bestimmten Lichtwellen erreichen ließ (Nature, 14. April 2005).