Diabetes: Ein Süßholz-Molekül schützt und heilt

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Illustration des oberen Teils des Süßholzstrauches. Geerntet werden allerdings die bis zu acht Meter langen Wurzeln. Quelle: wikimedia commons

18.04.2012  - 

Berliner Ernährungsgenetiker haben in einer Naturstoffbibliothek eine neue Gruppe von Molekülen entdeckt, die bei der Behandlung einer Reihe von Volkskrankheiten wie Diabetes oder Fettsucht helfen könnte. Die sogenannten Amorfrutine kommen zum Beispiel in der Süßholzpflanze vor. Sie sind blutzuckersenkend, entzündungshemmend und darüber hinaus auch sehr gut verträglich. In der Fachzeitschrift PNAS (2012, Vorabveröffentlichung) berichten die Forscher um Sascha Sauer, wie sie auf diese Substanzen gestoßen sind und welche Auswirkungen auf diabeteskranke Mäuse eine Behandlung mit ihnen hat.

Der lateinische Name des Süßholzes Glycyrrhiza glabra stand Pate für die deutsche Übersetzung: Lakritze. Besonders gern wird es zur Herstellung der gleichnamigen Süßigkeit verwendet. Der Hauptbestandteil, Glycyrrhizin, ist süßer als Rohrzucker. Süßholz wird daher gern in Teemischungen eingesetzt. Darüber hinaus sind noch viele andere Inhaltsstoffe bekannt, denen zum Teil auch heilsame Wirkungen nachgesagt werden. So hilft Süßholz beispielsweise bei Magenbeschwerden, Leberleiden und Atemwegserkrankungen. Ein Berliner Forscherteam des Otto-Warburg-Labors am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik hat unter den Inhaltsstoffen jetzt ganz besondere Moleküle entdeckt. Mit denen könnten womöglich auch komplexe Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes einmal behandelt werden. Sie werden als Amorfrutine bezeichnet.

In dieser Folge der Kreidezeit erklären wir, wie ein Transkriptionsfaktor das Ablesen eines oder mehrerer Gene positiv oder negativ regulieren kann. Quelle: biotechnologie.tv

Anders als vielleicht gedacht, verdanken die Amorfrutine ihren Namen keiner Liebelei. Dieser ist vielmehr Ergebnis eines Wortspiels mit dem lateinischen Namen des Strauches, aus dem sie zuerst isoliert wurden: Amorpha fruticosa (Bastard- oder Scheinindigo). Momentan sind etwa 15 verschiedene Amorfrutine bekannt.

Eine Berlin-Brandenburg-Gemeinschaftsarbeit

Das Berliner Team um Sascha Sauer war auf der Suche nach neuen Wirkstoffen, die den Fett- und Zuckerstoffwechsel positiv beeinflussen. Dazu arbeitete es zunächst mit einem Potsdamer Biotech-Unternehmen zusammen. Die Analyticon Discovery ist eine Ausgründung der TU Berlin und beschäftigt derzeit etwa 60 Mitarbeiter. Sauer erzählt begeistert von der Firma: „Auf dem Gebiet der Extraktion von Naturstoffen aus Pflanzen haben sie echte Pionierarbeit geleistet.“ Der Max-Planck-Forscher nutzte eine Bibliothek von Naturstoffen der Potsdamer. Zunächst mit Hilfe von in-vitro-Bindungstests und später auch von Zellkulturtests durchforsteten die Genetiker diese Bibliothek nach wirksamen Substanzen – mit Erfolg.

Dank Amorfrutinen: Gesund trotz ungesunder Ernährung?

Unter den ausgewählten Substanzen stach eine Molekülgruppe hervor, die Amorfrutine. Nach den Versuchen in Mikrotiterplaten folgten dann Experimente an Mäusen. Das Ergebnis: Die Gabe von Amorfrutinen senkte den Blutzuckerspiegel der Tiere. Sauer zufolge sah man den Effekt bei den Tieren deutlich: „Wir haben unsere Mäuse mit fettreicher Ernährung gemästet. Die Kontrolltiere setzen auch ordentlich Speck an. Die Mäuse, denen wir Amorfrutin verabreicht hatten, blieben hingegen normalgewichtig.“

Süßholz

Das Süßholz ist Arzneimittelpflanze des Jahres 2012. Die Auswahl wird jedes Jahr vom „Studienkreis Entwicklungsgeschichte der Arzneipflanzenkunde“ der Universität Würzburg und dem World Wide Fund for Nature (WWF) getroffen. Obwohl Süßholz für den kommerziellen Gebrauch derzeit vorwiegend aus wärmeren Gegenden importiert wird, kommt es in Deutschland durchaus auch wild vor.

Das allein ist schon Erfolg genug für die Forscher, doch es gab noch eine weitere Überraschung, wie Sauer gegenüber biotechnologie.de verriet: „Außerdem entwickelten die Kontrolltiere eine Fettleber, die in etwa so aussah wie Gänsestopfleber aus dem Delikatessenladen. Bei den Amorfructin-Mäusen hingegen gab es auch hier keine Anzeichen von Fett in der Leber.“ Während ersteres darauf hindeutet, dass Amorfrutine „Altersdiabetes“ (Typ-2-Diabetes) lindern könnte, legt letzteres nahe, dass eine Einnahme der Moleküle vor Hüftspeck schützen könnte.

Das Schlüsselmolekül – ein Schalter im Zellkern

Die Forscher suchten von Anfang an nach einer Substanz, die mit dem Transkriptionsfaktor PPARy reagiert. Transkriptionsfaktoren sind eine Art Schalter, die Gene an und wieder abschalten können. Von PPARy wusste man bereits, dass er eine Rolle im Stoffwechsel der Zelle spielt. Mäuse, die kein Gen für diesen Transkriptionsfaktor in ihren Fettzellen besaßen, nahmen nicht an Gewicht zu – obwohl sie mit fettreicher Nahrung gemästet wurden. PPARy wird physiologisch durch Fettsäuren aktiviert, die nach entsprechend fettreicher Ernährung vermehrt auch im Zellplasma vorliegen. Der Transkriptionsfaktor ist ein Schlüsselprotein für die Differenzierung von Fettzellen, für den Glukosestoffwechsel in Leber und Muskel sowie die Funktion der b-Zellen der Bauchspeicheldrüse. Laut Sauer gibt es schon PPARy-Medikamente auf dem Markt: „Diese Substanzen beeinflussen den Transkriptionsfaktor zwar, allerdings tun sie dies nicht selektiv genug. Sie verursachen daher Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder Herz-Kreislauf-Probleme.“ Ganz anders das getestete Amorfrutin A1, das Sauer zufolge ausgesprochen gut verträglich ist.

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Wer jetzt allerdings seine Ernährung auf Lakritzschnecken und Süßholztees umstellen will, den muss Sauer enttäuschen: „Dort liegen die Amorfrutine in viel zu geringer Konzentration vor.“ Die Forscher arbeiten aber an technischen Verfahren, um einmal natürliche Amorfrutin-Extrakte in industriellem Maßstab gewinnen zu können. Laut Sauer sei mit dem Thema „Nahrung mit Zusatznutzen“ (functional food) in letzter Zeit viel Schindluder getrieben worden. Für viele momentan eingesetzte Nahrungsmittelzusätze sei ein möglicher Nutzen nur schwach dokumentiert.

Präventivschlag gegen Diabetes

Antidiabetisch, antiinflammatorisch und eventuell sogar antikanzerogen – den Amorfrutinen könnte eine goldene Zukunft bevorstehen. Dafür müssen sich die Moleküle aber erst einmal in klinischen Studien an Diabetes-Patienten bewähren. Neben der Therapie der Blutzuckerkrankheit schwebt Sauer aber auch noch etwas anderes vor: „Kulturelle Anpassungen wie zum Beispiel die Änderung von Ernährungsgewohnheiten haben sich in der Praxis als schwer umsetzbar erwiesen.“ Nach Ansicht von Sauer sollte man in Zukunft – gerade auch in Anbetracht immer häufiger auftretender Stoffwechselkrankheiten – auch über einen präventiven Einsatz von Naturstoff-Extrakten nachdenken. „Zum Beispiel könnten die Amorfrutine bei Diabetes-Risikopatienten die Entstehung der Krankheit herauszögern oder vielleicht auch verhindern helfen.“

© biotechnologie.de/ml

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