Mobiler Einsatztrupp: Immunzellen wandern ins Gehirn

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Monozyten gehören zu den weißen Blutkörperchen. Dieses Exemplar eines Menschen wurde mit einem Rasterelektronenmikroskop abgebildet. Quelle: The Journal of Cell Biology

24.10.2012  - 

Bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen wie zum Beispiel bei Morbus Alzheimer spielen Mikroglia-Zellen eine entscheidende Rolle. Die Hausmeister des Gehirns sorgen für einen reibungslosen Ablauf und räumen schon einmal Zellmüll auf. In erkrankten und alternden Gehirnen funktionieren Mikroglia weniger gut oder sie verschwinden gar komplett. Forscher des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung in Tübingen haben einen möglichen Ausweg entdeckt, die schwindende Immunabwehr des Gehirns wiederherzustellen. Bei Mäusen können Immunzellen aus dem Blut die Schranke in Richtung Gehirn überwinden. Sie bewegen sich dann bevorzugt dorthin, wo sie als Retter gebraucht werden: zu absterbenden Nervenzellen. Das berichtet das Tübinger Team im Fachjournal PNAS (2012, Online-Vorabveröffentlichung).

Neben den Nervenzellen besteht das Gehirn vor allem aus sogenannten Gliazellen. Zu diesen zum Entdeckungszeitpunkt als bloßer Kitt oder Kleister bezeichneten Zellen gehören neben den Astrozyten und den Oligodendrozyten auch Mikroglia. Letztere stammen aus dem Knochenmark und gehören somit eher zum Immun- als zum Nervensystem. Im Gehirn erkennen sie Infektionen und bekämpfen diese auch. Dass nur wenige Krankheitserreger das Gehirn überhaupt erreichen, liegt indes an einem Filter namens Blut-Hirn-Schranke. Der Neurowissenschaftler Nicholas Varvel kennt aber auch deren Kehrseite: „Die Schranke verhindert, dass manche, womöglich nützliche Körperzellen ins Gehirn vordringen können.“

Fresszellen lassen sich von Schranken nicht aufhalten

Varvel, sein Gruppenleiter Mathias Jucker und ihre Kollegen vom Tübinger Hertie-Institut für klinische Hirnforschung – einer Einrichtung des Tübinger Standorts des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) aus Bonn – haben einen neuen Zelltyp entdeckt, der unter Umständen auch die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann.

Prof. Mathias Jucker leitet die Abteilung "Zellbiologie neurologischer Erkrankungen" am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. In seinem Labor untersuchte Nicholas Varvel die Mäuse ohne Mikroglia.Lightbox-Link
Prof. Mathias Jucker leitet die Abteilung "Zellbiologie neurologischer Erkrankungen" am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen. In seinem Labor untersuchte Nicholas Varvel die Mäuse ohne Mikroglia.Quelle: Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Bei Versuchen mit genetisch veränderten Mäusen wiesen sie nach, dass bestimmte weiße Blutkörperchen – die Fresszellen beziehungsweise Monozyten – das Gehirn bevölkern können. Sie waren auch noch ein halbes Jahr nach Beginn der Experimente im Hirngewebe der Mäuse zu finden.  Die dort eigentlich fremden Immunzellen hatten sich dauerhaft angesiedelt, wobei sie auf Verletzungen und andere Reize in ähnlicher Weise reagierten wie die ursprünglichen Mikroglia. „Dies zeigt, dass das Gehirn auf extreme Situationen flexibel reagieren kann und bemüht ist, sein Immunsystem instand zu halten“, so Varvel.

Auf den Totalverlust folgt die Einwanderungswelle

In ihrem Fachaufsatz beschreiben die Wissenschaftler einen wesentlichen Unterschied zwischen gesunden und erkrankten Gehirnen: Wandern Monozyten doch einmal in gesunde, mit Mikroglia bevölkerte Gehirnareale ein, verschwinden sie sofort wieder. Bei erkrankten, durch teilweisen oder vollständigen Verlust von Mikroglia-Zellen gekennzeichneten Gehirnregionen haben die Eindringlinge hingegen eine Zukunft, da sie die Aufgaben der fehlenden Mikroglia übernehmen können.

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Den Mäusen der Tübinger Forscher fehlten durch eine gentechnische Veränderung nahezu sämtliche Mikroglia-Zellen. Der Organismus dieser Mäuse kann aber durchaus auf diese neue Situation reagieren: Bereits zwei Wochen nach dem Mikroglia-Totalverlust beobachtete Varvel neu eingewanderte Zellen, die er später als Monozyten charakterisieren konnte. Im Vergleich zu Mikroglia sehen diese zwar anders aus – und absolut gesehen gibt es auch in etwa doppelt so viele davon –, doch ganz allgemein waren die Monozyten in etwa so über das Gehirn dieser Mäuse verteilt wie es Mikroglia bei gesunden Tieren sind.

Zukunftsträume: Zelltherapie und Gentherapie im Gehirn

Die wandernden Monozyten machten die Tübinger Forscher hellhörig: Lassen sich die Immunzellen des Blutes womöglich auch zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen einsetzen? Bei solchen Störungen des Nervensystems, zu denen auch die Alzheimer-Krankheit zählt, verlieren Hirnzellen allmählich ihre Funktion. Gedächtnisschwund und Demenz sind die Folge. „Im Krankheitsfall sind Monozyten möglicherweise in der Lage, die Aufgaben geschädigter Mikroglia zu übernehmen“, vermutet Varvel. „Auch könnte man darüber nachdenken, mit Hilfe der Monozyten Medikamente ins Gehirn zu schleusen. Das ist aber noch Zukunftsmusik.“

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