Hirntumore bei Kindern: Genom in Trümmern

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Eine erbliche Veränderung im p53, dem „Wächter des Genoms“, ist möglicherweise die Ursache für explosionsartige Umlagerungen im Erbgut. Quelle: EMBL / P. Riedinger

31.07.2012  - 

Bei Hirntumoren von Kindern kommt es zu charakteristischen Veränderungen im Genom. Das zeigt eine erste Zwischenauswertung eines groß angelegten DNA-Screenings. Bei einer besonders aggressiven Tumorform liegt das gesamte Erbgut regelrecht in Trümmern. Die Arbeiten des von Heidelberger Wissenschaftlern koordinierten PedBrain-Tumor-Projekts werden durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Deutsche Krebshilfe mit insgesamt 15 Millionen Euro gefördert.

Im Jahr 2010 startete der PedBrain-Tumor genannte Forschungsverbund mit seiner Mammutaufgabe. Unter Federführung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg war der Forscherverbund angetreten, systematisch alle Erbgutveränderungen bestimmter kindlicher Hirntumore unter die Lupe zu  nehmen. Die Arbeiten sind Teil des deutschen Beitrages zum Internationalen Krebsgenom-Konsortium (ICGC), das sich seit 2008 weltweit formiert hat, um die 50 häufigsten Tumorerkrankungen genetisch zu katalogisieren (mehr...). Von jeweils 300 Kindern und Jugendlichen, die an den besonders häufig auftretenden Hirntumoren wie dem Medulloblastom litten, wurden im Rahmen von PedBrainTumor Gewebeproben untersucht und das Genom der Krebszelle sequenziert. Das Ziel: Angriffspunkte aufdecken, um neue Medikamente zu entwickeln und bewährte Arzneien zielgerichteter einsetzen zu können und so die Behandlung der krebskranken Kinder verbessern.In dieser Folge der Kreidezeit erklären wir, wie eine Sequenzierung von Genen funktioniert.Quelle: biotechnologie.de

Bösartige Tumore mit vierfachem Chromosomensatz

Die Forscher ziehen nun eine erste Zwischenbilanz. Das Erbmaterial von 125 Medulloblastomen konnte mittlerweile entziffert werden. Eine erste Analyse der bisher erhaltenen Daten stellen die Forscher nun im Fachjournal Nature (2012, Online-Vorabveröffentlichung) vor. „Wir sehen bereits jetzt, dass das Erbgut der Medulloblastome von Patient zu Patient große Unterschiede aufweist“, sagt Peter Lichter, einer der Verbundkoordinatoren. „Aber es haben sich auch einige besonders häufige und charakteristische Erbgutveränderungen herauskristallisiert, die wegweisend für die Entwicklung neuer Diagnose- und Behandlungsmethoden sein können.“ Viele der sehr bösartig verlaufenden Medulloblastome besitzen statt des normalen doppelten einen vierfachen Chromosomensatz. „Es ist nicht erwiesen, dass die überzähligen Chromosomen den Krebs auslösen. Aber sie treten mit Sicherheit sehr früh im Verlauf der Krebsentstehung auf“, erläutert Lichter. Gemeinsam mit der Firma Bayer Healthcare entwickelt das DKFZ nun einen Wirkstoff, der gezielt das Wachstum von Zellen bremst, die mehr als zwei Chromosomensätze haben (mehr…). Etwa ein Drittel aller Einzelmutationen beim Medulloblastom betrifft Gene, die für die so genannten epigenetischen Modifikationen eine Rolle spielen. „Dieser Befund unterstreicht erneut, dass Medikamente, die diese Modifikationen beeinflussen, eine immer wichtigere Rolle in der Krebstherapie spielen werden“, sagt der Kinderarzt und Molekularbiologe Stefan Pfister vom Universitätsklinikum Heidelberg. Gemeinsam mit dem DKFZ erprobt die Klinik bereits einige solche Wirkstoffe gegen bestimmte kindliche Tumore.

PedBrain-Tumor

PedBrain-Tumor ist der erste deutsche Beitrag zum Internationalen Krebsgenom-Konsortium ICGC

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SSH-Medullablastom: Explosion im Genom

Bei einigen der untersuchten Gewebeproben war das genetische Chaos besonders groß. Gemeinsam mit dem Europäischen Labor für Molekularbiologie (EMBL) untersuchten die Heidelberger Forscher 13 sogenannte SSH-Medullablastome. Dort war in 11 Fällen ein Gen beschädigt, das für ein Protein namens p53 codierte. Als Wächter des Genoms sorgt dieser Transkriptionsfaktor für Ordnung. Es hält nach Erbgutschädigung die Zellteilung auf, so dass die Zelle Zeit gewinnt, die DNA-Defekte zu reparieren. Sind die Schäden irreparabel, so sorgt p53 dafür, dass der programmierte Zelltod eingeleitet wird.

Phänomen Chromothripsis

Fällt p53 als Regulationsfaktor aus, so sind die Folgen drastisch, berichten die Forscher im Fachmagazin Cell (2012, Online-Vorabveröffentlichung). Das Erbgut der Betroffenen lag regelrecht in Trümmern: Abschnitte einzelner Chromosomen waren an unzähligen Stellen zerbrochen und regelwidrig wieder zusammengebaut worden, so dass ganze Erbgutabschnitte fehlten, andere dagegen vervielfältigt oder in falscher Orientierung eingebaut waren. Dieses Schadensbild unterscheidet sich von bisher bekannten Erbgutdefekten in Tumorzellen.

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Ein solches Desaster im Erbgut bezeichnen Wissenschaftler mit dem Begriff Chromothripsis. Das erst kürzlich entdeckte Phänomen tritt bei etwa zwei bis drei Prozent aller Krebserkrankungen auf. Es entsteht wahrscheinlich durch ein einzelnes Ereignis in der Zelle, das die Chromosomen geradezu explodieren lässt. Eine allmähliche Anhäufung einzelner Mutationen, wie man sie von den meisten Krebserkrankungen kennt, kann ein solches Durcheinander nicht erklären. „Bei allen Patienten mit einem ererbten p53-Defekt finden wir das Chromosomen-Chaos in den Krebszellen. Dagegen weist keine Tumorprobe mit intaktem p53-Gen das Schadensmuster auf – der Zusammenhang ist hoch signifikant“, erklärt Peter Lichter. „Eine p53-Mutation prädisponiert die Zelle offenbar für Chromothripsis. Allerdings wissen wir noch nicht, ob die Mutation die Chromosomen anfälliger und zerbrechlicher macht oder aber ob sie die Zelle trotz Chromosomen-Chaos am Leben erhält. Eigentlich wäre der Zelltod die normale Reaktion auf so massive Erbgutschäden“, ergänzt sein Kollege Jan Korbel vom EMBL.

Individuelle Genomanalyse zum Therapiestart

Für den Kinderarzt Lichter haben die neuen Erkenntnisse auch ganz praktische Auswirkungen; „Bei der genetischen Komplexität und Heterogenität dieses Tumors spricht vieles dafür, in Zukunft bei jedem betroffenen Kind das Tumorerbgut zu analysieren, um die aussichtsreichste Therapie zu identifizieren.“ Patienten mit Chromothripsis könnten dann beispielsweise besonders engmaschig überwacht werden. Auch bei der Therapiewahl ist bei ihnen besondere Vorsicht geboten, denn Strahlentherapie und auch einige Zytostatika wirken, indem sie das Erbgut schädigen. Bei Menschen mit ererbtem p53-Defekt ist die DNA-Reparatur jedoch in allen Körperzellen beeinträchtigt, so dass therapiebedingte DNA-Schädigungen leicht zu weiteren Krebserkrankungen führen könnten.

© biotechnologie.de/bk

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