Naturforscher fordern Turbo für die Artenbestimmung
13.04.2012 -
Die vollständige Bestimmung von nicht weniger als zehn Millionen Tieren und Pflanzen und das in nur 50 Jahren – laut einer Gruppe von Artenforschern könnte dieses Mammutprojekt bald Realität werden. Unter ihnen ist auch Johannes Vogel, der neue Generaldirektor des Berliner Museums für Naturkunde. Mit einer gläsernen Artenfabrik möchte der Biodiversitätsforscher die Bestimmung von Arten automatisieren und so den Schutz der biologischen Vielfalt auf der Erde vorantreiben.
Anfang des 18. Jahrhunderts schuf der berühmte Naturforscher Carl von Linné die Grundlagen der botanischen und zoologischen Taxonomie. Rund 300 Jahre sind seitdem vergangen, in denen ungefähr zwei Millionen Arten bestimmt werden konnten. Das erscheint auf den ersten Blick viel. Biodiversitäts-Experten schätzen hingegen, dass noch etwa zehn Millionen Tiere und Pflanzen leben, die bisher noch nicht den Einzug in die Bestimmungsbücher gefunden haben.
Artencheck mittels genetischem Barcoding
39 Wissenschaftler aus aller Welt haben sich Gedanken gemacht, wie sich diese unglaubliche Anzahl an Lebewesen zukünftig katalogisieren lässt. Nachzulesen ist der Aufruf im Journal Systematics in Biodiversity (2012, Bd. 1, S. 1-20). Das ehrgeizige Ziel der Autoren: In nur 50 Jahren soll die gesamte biologische Vielfalt beschrieben sein. „Dies wird nicht funktionieren, wenn wir weiter vorgehen wie bisher“, betont der neue Generaldirektor des Berliner Naturkundemuseums Johannes Vogel. „Heutzutage muss die Erkennung einer Art mit Hilfe innerer und äußerer Morphologie auch durch die DNA ergänzt werden. Uns kommt aber zugute, dass die Verfügbarkeit von DNA-Sequenzen immer billiger wird.“
Für das sogenannte genetische Barcoding einer neuen Tierarten reichen Gewebe- oder DNA-Proben aus. Untersucht wird hierbei in der Regel ein Abschnitt in der DNA der Mitochondrien, den Kraftwerken der Zellen. Da die mitochondrielle DNA nur über die Mutter vererbt wird, lässt aufgrund ihrer Beständigkeit Rückschlüsse auf Verwandtschaftsverhältnisse und Artabgrenzungen zu. Im Gegensatz zur konventionellen Artbestimmung lassen sich so auch dann Individuen ermitteln, wenn sie noch in einem frühen Entwicklungsstadium sind oder nur Überreste von ihnen gefunden werden, wie zum Beispiel Insektenbeine.
Nicht nur die Genetik betrachten
Allein die Genetik aller Lebewesen zu entschlüsseln und mit bereits bekannten Arten zu vergleichen, wäre schon eine riesige Aufgabe. Die Wissenschaftler wollen aber zusätzlich auch „für jede Art verstehen, was sie einmalig macht, von ihrem Aussehen bis zu ihrer genetischen Ausstattung, ihrem Verhalten, ihrer Ökologie, ihrer geografischen und jahreszeitlichen Verbreitung und ihren Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Arten.“
Schaffen wollen die Wissenschaftler dies vor allem durch den Einsatz neuester Technik und die digitale Vernetzung der bestehenden naturkundlichen Sammlungen und Experten wie Klimaforschern, Naturschutzexperten und Biodiversitätsforschern. Auch Hobby-Artenkundler sollten in das Vorhaben miteinbezogen werden, schreiben die Fachleute in ihrem Beitrag.
Artenbestimmungsfabrik aufbauen
Um das Großprojekt zu realisieren, möchte Johannes Vogel eine Artenbestimmungsfabrik bauen, die vollautomatisch Lebewesen genetisch und optisch analysiert, mit internationalen Datenbanken abgleicht und gleichzeitig Forschern aus aller Welt Zugriff auf die neu gewonnen Erkenntnisse ermöglicht (mehr dazu in Folge 97 von biotech.tv : hier klicken)
Während sich früher bei der klassischen Artenbestimmung Forscher nur auf das Aussehen der Lebewesen konzentrierten und sich durch Bestimmungsbücher kämpften, sollen in dieser gläsernen Fabrik alle Arbeiten von Robotern durchgeführt werden. Das meiste ist noch Science-Fiction: Ein unbekanntes Insekt würde hier durch einen Greifarm in einen Computertomografen gesteckt werden um ein 3D-Modell zu erstellen. Zusätzlich zum Scannen der optischen Merkmale würde auch eine Gewebeprobe entnommen werden. Diese würde noch an Ort und Stelle genetisch analysiert werden und der genetische Code mit Datenbanken abgeglichen werden. „Der Roboter würde die bekannten Arten einsortieren und dem Taxonomen die unbekannten zur Verfügung stellen. Die Forscher können sich also auf die Bestimmung neuer Arten konzentrieren. Ein enormer Zeitgewinn“, unterstreicht Johannes Vogel. Das Barcoding hat bereits Einzug in die Forschungsarbeit der Zoologen und Botaniker weltweit gefunden. Ein aktuelles Beispiel ist die „Barcoding Fauna Bavarica“. Das Projekt hat sich zum Ziel, alle Tierarten Bayerns mit einem genetischen Erkennungscode in einer Datenbank zusammenzufassen (mehr). Bis 2014 sollen die DNA-Sequenzen für die ersten 10.000 Arten vorliegen.
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Hightech-Artenkunde wird Millionen kosten
Weitgehend offen ist hingegen die Finanzierung der Pläne der Autoren. Die Kosten für die gläserne Fabrik allein würden sich auf circa 100 Millionen Euro belaufen, schätzt Vogel. Für den Aufbau eines weltweiten Netzwerkes würden noch einmal 20 Millionen Euro hinzukommen. Geld, das Johannes Vogel sich von der deutschen Industrie erhofft: „Wir Biologen und die deutsche Industrie müssen zusammenkommen und uns die Köpfe heißreden und zusammenarbeiten, um eine neue Art der Biodiversitätsforschung zu erfinden.“
Pro Jahr wollen die Wissenschaftler rund 200.000 Arten bestimmen. Dafür rechne sie allein mit Personalkosten von rund 380 Millionen Euro. Quentin Wheeler, Entomologe an der Arizona State University und Hauptautor der Publikation, schildert, warum trotz enormer Kosten die Artenbestimmung beschleunigt werden muss: „Vom 18. Jahrhundert bis zu unserer heutigen Einschätzung der Geschwindigkeit, mit der wir Biodiversität verlieren, schien es so, als könnten wir damit leben, nur einen Teil der Arten auf der Erde zu kennen. Nun ist es offenkundig, dass dies eine tragische Fehleinschätzung war.“ Wie die Autoren in ihrer Veröffentlichung schildern, sollen allein 30 Prozent aller heutigen Arten noch in diesem Jahrhundert aussterben. Sollte die Bestimmung aller Tier- und Pflanzenarten also tatsächlich in 50 Jahren abgeschlossen sein, könnte es für viele Lebewesen allerdings schon zu spät sein.
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