Proteinkapseln schmuggeln Arznei ins Gehirn

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Die beladenen Medikamentenfähren unter dem Elektronenmikroskop. Ihr Durchmesser ist im Vergleich zum menschlichen Haar etwa 5000 mal kleiner. Quelle: Life Science Inkubator

23.03.2012  - 

Wissenschaftler des Bonner Life Science Inkubators (LSI) haben winzige Proteinkapseln entwickelt, die wie Medikamenten-Fähren wirken und die Blut-Hirn-Schranke (BHS) passieren können. So können Wirkstoffe, die bisher an der BHS abgeblockt wurden, aus der Blutbahn gezielt ins Gehirn befördert werden. Dass dies tatsächlich funktioniert, haben die Forscher bereits in Tierversuchen belegt. Damit eröffnen sich völlig neue Wege für die Behandlung von Erkrankungen wie beispielsweise Multipler Sklerose oder Hirntumoren. Das erfolgreiche Projekt wird nun als Start-up-Unternehmen unter der Leitung des Molekularbiologen Heiko Manninga aus dem LSI ausgegründet.

Die Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder Multipler Sklerose gestaltet sich oft sehr schwierig. Aktuell ist es kaum möglich, geeignete Arzneimittel zum Ort des Krankheitsgeschehens, dem Gehirn zu transportieren, denn ein Filtermechanismus in der Wand der Blutgefäße, die es versorgen, verhindert dies: die Blut-Hirn-Schranke. Diese Barriere dient eigentlich zum Schutz vor Krankheitserregern, ist durch ihre hohe Selektivität jedoch gleichzeitig so spezifisch, dass auch kaum ein Wirkstoff sie passieren kann.

Life Science Inkubator

Der LSI wurde 2007 von Max-Planck-Innovation, der Technologietransfer-Organisation der Max-Planck-Gesellschaft gegründet und soll Ausgründungen im Bereich der Lebenswissenschaften erleichtern. Gefördert wird dieses Modell unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Land NRW.

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Dieser Problematik widmen sich seit einiger Zeit die Forscher des Bonner Life Science Inkubators – und das mit Erfolg. Sie haben eine Art Medikamenten-Fähre entwickelt, mit der es gelingt, Wirkstoffe durch die Blut-Hirn-Schranke direkt bis ins Gehirn zu schleusen.

Navigationssystem an Bord

Ermöglicht wird das ganze Verfahren erst durch künstlich hergestellte Proteinkapseln, sogenannte „Virus-Like-Particles" (VLPs). Hieraus entwickelte die Forschergruppe kugelförmige, nur Millionstel Millimeter große Hüllen, die als „Engineered Protein Capsules“ (EPC) bezeichnet werden. Diese lassen sich gezielt mit Wirkstoffen beladen. Für die punktgenaue Lieferung der Fracht in die Hirnzellen sorgen die Proteine an der Kapseloberfläche. Projektleiter Heiko Manninga schwärmt: „Unser Verfahren bringt Wirkstoffe genau dorthin, wo sie ihre Reaktion entfalten sollen. Das gleicht einer Pille mit eingebautem GPS.“ Der Einsatz von VLPs ist nicht neu. Bereits seit einigen Jahren finden diese Verwendung in der Immunforschung sowie zur praktischen Impfung. Neu hingegen ist der Ansatz, die Proteinkapseln zum Transport von Wirkstoffen einzusetzen, vor allem hinsichtlich der Behandlung von Hirnerkrankungen. Dass ihr Modell tatsächlich funktioniert, haben die Wissenschaftler in Tierversuchen demonstriert.

Dr. Carsten Lambert vom VLP-Team begutachtet die beladenen Medikamentenfähren am Fluoreszenzmikroskop.Lightbox-Link
Dr. Carsten Lambert vom VLP-Team begutachtet die beladenen Medikamentenfähren am Fluoreszenzmikroskop.Quelle: Life Science Inkubator
Sie verabreichten Mäusen einen Marker in die Blutbahn, welcher später in deren Gehirnen nachgewiesen werden konnte. Neuartige Behandlungsmöglichkeiten von Erkrankungen des zentralen Nervensystems könnten die Folge dieser Entdeckung sein.

Manninga erläutert den Trick hinter dem System: „Manche Substanzen können die Blut-Hirn-Schranke durchaus passieren. Auch unsere Fähre wird vom Gehirn als etwas wahrgenommen, das es unbedingt benötigt. Sie kann so durch die Blut-Hirn-Schranke schlüpfen." Damit sei es möglich, eine Vielzahl von Wirkstoffen von der Blutbahn ins Gehirn zu transportieren. „Dass das Verfahren so gezielt wirkt, hat uns selbst überrascht“, so Manninga. Die transportierten Moleküle erreichen nicht nur ihr Ziel, sie kommen zudem auch noch komplett funktionsfähig in den Zellen an. „Das Paket wird unbeschadet abgeliefert, das ist Voraussetzung für eine mögliche Therapie“, sagt der Forscher.

Erste Ausgründung des LSI

Als Start-up-Unternehmen wird Manningas Projektgruppe die Arbeiten mit dem Entwicklungsziel fortführen, „Gliobastoma multiforme", eine besonders aggressive Form des Hirntumors zu therapieren. „Wir werden nun die Untersuchungen mit Mäusen fortsetzen und dabei verschiedene Wirkstoffe zur Behandlung von Hirntumoren testen", so Manninga.

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„Innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre hoffen wir, mit ersten Patientenstudien beginnen zu können.“ Doch nicht nur Krebs will der Forscher auf diese Weise behandeln. Der Therapieansatz könnte sich auch für andere neurodegenerative Erkrankungen eignen. Ganz oben auf der Liste steht für den Wissenschaftler die Multiple Sklerose, eine Krankheit, von der alleine in Deutschland 120.000 und weltweit geschätzte 2,5 Millionen Menschen betroffen sind.

Weitere große Schritte sind geplant: Manninga will eine Biotech-Firma gründen und diese bis 2016 auf 30 Mitarbeiter ausbauen. Dank der guten Ergebnisse des VLP-Projekts ist die damit erste Ausgründung des Life Science Inkubators bereits in Vorbereitung. Insgesamt befinden sich zur Zeit vier Projekte im „Brutkasten". Angesiedelt ist das LSI am Forschungszentrum des caesar in Bonn, Träger ist eine Public-Private-Partnership. Beteiligt sind neben dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Landesministerium für Forschung NRW auch die großen Forschungsorganisationen sowie private Investoren. Das Ziel des Gemeinschaftsprojektes ist es, eine Brücke zwischen Forschung und Gesundheitsmarkt zu schlagen und wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Bereichen Biotechnologie, Pharma- und Medizintechnik in marktfähige, zukunftsweisende Technologien umzusetzen.

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