ALS: Forscher entdecken neuen Mechanismus
07.03.2012 -
Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine tückische Nervenerkrankung, die nach und nach zu Muskellähmungen im ganzen Körper führt. Über eine mögliche Krankheitsursache waren sich die Wissenschaftler bisher weitgehend einig: Ein Transportproblem zentraler Zellbestandteile des Stoffwechsels lässt Axone von motorischen Neuronen verkümmern. Neue Untersuchungen von Forschern um Thomas Misgeld von der Technischen Universität München stellen dieses Erklärungsmodell jetzt in Frage. Im angesehenen Fachmagazin Proceedings of the National Academy of Science (2012, Online-Vorabveröffentlichung)präsentieren sie ihre Daten. Bestätigen sich ihre Ergebnisse, so müsste die Therapie der Patienten neu gestaltet werden.
Für die Betroffenen ist die Diagnose Amyotrophe Lateralsklerose ein Todesurteil. Eine Heilung des Leidens ist bis heute nicht möglich. Bei ALS sterben eine bestimmte Art von Nervenzellen, die sogenannten Motoneurone, nach und nach ab. Diese Zellen sind für die Muskelbewegungen verantwortlich. Durch die Lähmungen der Muskulatur kommt es unter anderem zu Gang-, Sprech- und Schluckstörungen, eingeschränkter Koordination und Schwäche der Arm- und Handmuskulatur. Im alltäglichen Leben sind Betroffene immer weiter eingeschränkt.
Nach etwa drei bis fünf Jahren sterben sie, häufig infolge einer Lungenentzündung, deren Entstehung durch die zunehmenden Schluckstörungen und die Lähmung der Atemmuskulatur begünstigt wird.
Krankheitsursache noch immer unklar
Warum die Neurone überhaupt absterben, ist bis heute nicht restlos geklärt. Ein beliebtes Erklärungsmodell der Forscher: Der Transport von Zellorganellen ist in den Motoneuronen gestört. Dadurch werden die langen, dünnen Nervenfortsätze irreperabel geschädigt, die für die Signalweiterleitung zuständig sind. In diesen sogenannten Axonen gelangen dann beispielsweise Mitochondrien, die für den Stoffwechsel und -austausch in der Zelle verantwortlich sind, nicht mehr an ihren Bestimmmungsort. In der Folge stirbt die Zelle ab.
Doch diese Erklärung stimmt offenbar nicht, dass zeigen Untersuchungen von Forschern der Technischen Universität München. Die Wissenschaftler um Thomas Misgeld untersuchten bis zu einen Meter langen Nervenfortsätze auf morphologische Veränderungen und Störungen im Zelltransport. Unter dem Mikroskop verfolgten sie die Bewegungen einzelner Mitochondrien, den Energielieferanten der Zelle, und von Vesikeln des Endosom-Systems, dem „Speditionsunternehmen“ der Zelle. Zu ihrer eigenen Überraschung stellten sie fest, dass die eingeschränkte Bewegung der Organellen und das Axon-Sterben voneinander unabhängige Prozesse darstellen können – und widerlegten so die bis dahin gängigen Annahmen.
Zeitraffer-Mikroskopie führt zu neuem Erklärungsmodell
Zusammen mit seinem Kollegen Martin Kerschensteiner von der Ludwig-Maximilians-Universität führte Misgeld umfangreiche Tests an Tiermodellen mit verschiedenen genetischen Mutationen durch, die ALS beim Menschen auslösen. Die beiden Wissenschaftler stützten sich dabei auf ein neuartiges Mikroskopieverfahren, wie Misgeld berichtet: „Für unsere Arbeit entwickelten Martin Kerschensteiner und ich neue Methoden, um die Organellen im Axon mittels genetischer Verfahren zu markieren und unter speziellen Zeitraffer-Mikroskopen live zu beobachten.“ Die Forscher hätten damit verschiedene ALS-Varianten untersucht.
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„Da wir davon ausgegangen waren, dass allen Krankheitsmodellen ein Transportproblem der Organellen zugrunde liegt, traf uns die Beobachtung, dass verschiedene Modelle sich in dieser Hinsicht unterscheiden, völlig unvorbereitet“, sagte Misgeld. Offensichtlich gibt es für die eingeschränkte Mobilität der Organellen und für das Absterben der Axone unterschiedliche Mechanismen. Das ist auch für künftige Therapien von Bedeutung. Bisher konzentrierten sich viele der Forschungsbemühungen darauf, den zellulären Transport wieder zu normalisieren. Doch das ist möglicherweise nicht das geeignete Ziel für therapeutische Ansätze, so die Misgeld: „Wir denken, dass unsere Erkenntnisse Folgen für künftige ALS-Studien, vielleicht sogar für Untersuchungen anderer neurogenerativer Erkrankungen wie Alzheimer oder Chorea Huntington haben werden.“ Die neuen Daten zeigen, dass eine Normalisierung des zellulären Transports allein vielleicht nicht ausreicht, um die Neurone vor dem Untergang zu bewahren. Bis sich aus dieser Erkenntnis aber wirklich neue Therapien für die Betroffenen ergeben, werden noch viele Jahre vergehen.
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