Keine Spinnerei: Nerven aus Seidenfasern

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Nervenzellen der Netzhaut (grün), die an elektrisch gesponnenen Seidenfäden (rot) entlangwachsen. Quelle: Universitätsklinikum Leipzig

03.01.2012  - 

Viele Menschen beäugen Spinnen mit einem gewissen Abscheu oder Ekel. Ihnen gelten die Achtbeiner als hässlich und mit dem Makel der Giftigkeit behaftet. Dieses Bild könnte sich in Zukunft wandeln. Mit Hochdruck arbeiten Forscher daran, Spinnenseide für die Medizin nutzbar zu machen: feinste Seidenstränge dienen regenerierenden Nervenfasern als Richtungsweiser.

Nerven wie Drahtseile – die gibt es leider nur im Sprichwort. Tatsächlich sind die Nervenzellen ziemlich empfindlich. Gerade bei Unfällen wird das zum Problem, denn zur Selbsterneuerung sind die Nerven nicht fähig. Wenn etwa durch einen Unfall der Sehnerv durchtrennt wird, erblinden die Betroffenen unabwendbar. „Um einen Nerv des Zentralen Nervensystems zum regenerativen Wachstum zu bewegen, brauchen wir Biomaterialien, die für den verletzten Nerv eine Art Gerüst bilden, an dem er entlang wachsen kann,“ sagt Thomas Claudepierre, Wissenschaftler an der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde am Universitätsklinikum Leipzig. Gemeinsam mit Forschern aus den USA und Frankreich entwickelt er nun ein Material, dass den verletzten Nerven als eine Art Leitplanke dienen könnte: nur wenige Millionstel Millimeter dünn gesponnene Seidenfäden. Die ersten Versuche mit dem neuen Material verliefen vielversprechend, berichten die Forscher nun im Fachmagazin Advanced Functional Materials (2011, Onlineveröffentlichung).

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Wachstumsfaktoren verstärken positiven Effekt

Für ihre Versuche nutzten die Forscher Zellkulturen von Netzhautnervenzellen der Ratte, die sie – um die Zerstörung des Nervs zu simulieren – in ein schädigendes Medium setzten. Wie sich zeigte, konnten die Zellen trotz der widrigen Bedingungen an parallel angeordneten Fäden aus dem Spinnenseidenprotein Fibroin entlang wachsen. Beluden die Forscher die Seidenfäden bei der Herstellung mit bestimmten Wachstumsfaktoren, so wurde der Effekt sogar noch stärker. „Wachstumsfaktoren, die in die Fasern eingeschlossen sind, können ihre Funktion über einen langen Zeitraum beibehalten“, erläutert Claudepierre. Die Ausläufer von diesen Nervenzellen wuchsen mehr als doppelt so lang.

Zum elektrischen Spinnen von Seidenfäden wird eine Flüssigkeit mit dem Seidenprotein Fibroin in eine Spritze geladen und durch das Anlegen einer starken Spannung elektrostatisch aufgeladen. Anschließend wird die Flüssigkeit als feiner Strahl zu einer negativ geladenen, rotierenden Kollektorspule geleitet. Um den Seidenfaden in paralleler Anordnung „einzufangen“, befestigten die Wissenschaftler auf der Spule kleine Deckgläschen.

"Ziel ist die Entwicklung eines 3D-Gerüsts"

Als nächsten Schritt wollen die Leipziger Wissenschaftler untersuchen, inwieweit auch die Gliazellen, die das Stützgewebe der Nervenzellen bilden, mithilfe der Seidenfasern ihre Orientierung wiedererlangen können. „Unser Ziel ist die Entwicklung eines 3D-Gerüsts, das an der Stelle einer Nervenschädigung implantiert wird und die Zellen dabei unterstützt, ihre Nervenfortsätze zu regenerieren“, sagt Claudepierre.

Bereits seit einiger Zeit interessieren sich Mediziner für Spinnenseide. Nicht nur als Wegweiser für Nervenzellen könnte sich der Naturstoff eignen. Forscher der Medizinischen Hochschule Hannover wollen mit ihrer Hilfe eine künstliche Haut züchten, um so chronische Wunden oder Verbrennungen zu heilen (mehr…).  Dafür werden Hautzellen auf ein Gewebe aus natürlicher Spinnenseide aufgetragen und wachsen dort zu zwei übereinanderliegenden gewebeähnlichen Hautschichten heran: Keratinozyten bildeten eine Epidermis, die äußerste Hautschicht, Fibroblasten die darunterliegende Dermis. Die Martinsrieder Amsilk GmbH will Implantate mit einer dünnen Schicht aus biotechnologisch hergestellter Spinnenseide überziehen, um so eine bessere Bioverträglichkeit zu erreichen (mehr…). Auch an der Herstellung von chirurgischem Nahtmaterial aus Spinnenseide wird gearbeitet (mehr…). Bis die ersten Produkte tatsächlich im Klinikalltag eingesetzt werden, dürfte jedoch noch einige Zeit vergehen.

© biotechnologie.de/bk

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