Bernstein-Netzwerk: 43 Millionen Euro für biomedizinische Gehirnforschung
06.08.2010 -
Milliarden von Nervenzellen, über Billionen von Verknüpfungen miteinander verschaltet, verarbeiten enorme Informationsmengen innerhalb von Sekundenbruchteilen in Form von komplexen, räumlich-zeitlichen elektrischen Aktivitätsmustern. Noch ist kein Computer dem Gehirn ebenbürtig. Allerdings können computergestützte Modelle die Funktion des Gehirns simulieren. Seit 2004 unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) deshalb vier Bernstein-Zentren, wo Wissenschaftler interdisziplinär am virtuellen Gehirn arbeiten. Mit insgesamt 43 Millionen Euro wird die Unterstützung von drei bestehenden Zentren in München, Berlin und Göttingen nun verlängert. Außerdem kommen in der zweiten Förderrunde, die bis 2015 reicht, zwei neue Zentren in Tübingen und Heidelberg/Mannheim hinzu.
Das menschliche Gehirn ist die komplexeste Struktur der Natur. Ein riesiges Netzwerk an Nervenzellen bringt unsere Sinnesempfindungen und das Bewusstsein hervor. Bis jetzt ist kein technisches System auch nur annähernd in der Lage, so schnell und zuverlässig zu arbeiten wie das lebende Gehirn. Fehlfunktionen des Gehirns verursachen gravierende körperliche und geistige Einschränkungen und gehören, insbesondere im Alter, zu den häufigsten Erkrankungen.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit von Biologen, Mathematikern und Medizinern
Um zu verstehen, wie es zu Fehlern kommt, brauchen Wissenschaftler ein Modell des Gehirns. Ein möglichst naturgetreues virtuelles Modell des Gehirns zu erstellen, das ist das Ziel der Computational Neuroscience. Gemeinsam identifizieren Mathematiker, Physiker, Biologen, Psychologen, Mediziner und Ingenieure Prinzipien der Hirnfunktion und übersetzen sie in eine mathematische Sprache. Mathematische Modelle der normalen oder krankhaft veränderten Hirnfunktion lassen sich in Computern simulieren und dort ‘virtuell’ überprüfen. Erfolgreiche theoretische Modelle der Hirnfunktion können dann in neu entwickelten technischen Systemen angewendet werden. Dieselbe Art von Modellen kann aber auch für die Erforschung von komplexen neurologischen Fehlfunktionen herangezogen werden.
Um die Disziplin in Deutschland zu verankern, wurde auf Initiative des BMBF im Jahr 2004 das “Nationale Netzwerk Computational Neuroscience“ eingerichtet. Kernelemente waren fünf Bernstein-Zentren für Computational Neuroscience in Berlin, Freiburg, Göttingen, Heidelberg-Mannheim, München und Tübingen. Dazu gibt es eine ganze Reihe an ergänzenden Aktivitäten, etwa die „Bernstein-Partner“, welche sich aus fünf Bernstein-Gruppen und elf Bernstein-Kooperationen zusammensetzen. Der jährlich vergebene Bernstein-Preis gestattet es jungen WissenschaftlerInnen, eine eigene Nachwuchsgruppe aufzubauen. Im Bernstein-Fokus vernetzen sich Arbeitsgruppen zu besonderen Fragestellungen.
Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience |
Das Bernstein Netzwerk Computational Neuroscience wird vom BMBF seit 2004 mit rund 150 Millionen Euro unterstützt. |
Eines der weltweit größten Netzwerke der Gehirnforschung
Der Fokus Neurotechnologie in den Regionen Berlin, Frankfurt/Main, Freiburg/Tübingen und Göttingen erweitert das Netzwerk im Hinblick auf technologische Anwendungen. Der Fokus „Neuronale Grundlagen des Lernens“ versammelt acht Kooperationsprojekte zu anwendungsrelevanten Aspekten von Lernen und Gedächtnis. Insgesamt erforschen damit innerhalb des Bernstein-Netzwerks rund 200 Arbeitsgruppen an 24 Standorten von Hochschulen, Forschungsinstitutionen und Unternehmen die Grundlagen des Gehirns. Damit gehört das deutsche Netzwerk zu den weltweit größten, die Computational Neuroscience betreiben.
Die Förderung für die Bernstein-Zentren war zunächst auf fünf Jahre angelegt. In der aktuellen zweiten Ausschreibungsrunde konnten sich die bereits bestehenden Zentren, aber auch neue Netzwerke für eine Förderung bewerben. Jetzt stehen die Gewinner fest. Demnach werden in Heidelberg/Mannheim und in Tübingen zwei neue Bernstein-Zentren entstehen. Heidelberg/Mannheim beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen genetisch vorbestimmten neuronalen Eigenschaften und deren Einfluss auf Verhalten und Kognition. In Tübingen geht es um die Fähigkeit des Gehirns, Sinnesinformationen und Vorwissen zu einer schlüssigen Wahrnehmung zu kombinieren.
Mehr zum Bernstein-Netzwerk auf biotechnologie.de |
Menschen: Susanne Schreiber - Wenn Nervenzellen im Gleichtakt schwingen Menschen: Jan Gläscher - Vom Entschluss, Entscheidungen zu erforschen |
Neuroprothesen und Therapien
Weiter geht die Forschung auch in drei schon bestehenden Zentren. In Berlin ergründen die Forscher die Signalverarbeitung im Gehirn, in Göttingen untersuchen sie die Kooperation der verschiedenen Teile des Gehirns und in München erforschen sie die Fähigkeit des Gehirns, räumliche und zeitliche Sinneswahrnehmungen miteinander zu verknüpfen. Das Zentrum in Freiburg, indem an der Dynamik des Gehirns geforscht wurde, dagegen wird nicht verlängert.
"Ein besseres Verständnis von Hirnfunktionen wird über die Grundlagenforschung hinaus auch technologische und medizinische Entwicklungen voranbringen", sagte Bundesforschungsministerin Annette Schavan bei der Bekanntmachung der aktuellen Förderrunde. Die Anwendungsmöglichkeiten reichen dabei von besseren therapeutischen Ansätzen bei neuronalen Erkrankungen bis hin zur Entwicklung von Neuroprothesen oder intelligenten Maschinen und Robotern.
Die fünf Bernstein-Zentren
- Berlin - Präzision und Variabilität
Koordinator: Prof. Michael Brecht, Humboldt-Universität zu Berlin
Förderhöhe: ca. 8,6 Millionen Euro
Das Gehirn arbeitet sehr präzise und verlässlich. Wie bei einem elektronischen System produzieren aber auch im Gehirn die Bauteile - die Nervenzellen - ein Hintergrundrauschen. Wie kodiert das Gehirn, angesichts dieser Variabilität, verlässlich Informationen? Welche neuronalen Signale sind wichtig, welche werden ignoriert?
- Göttingen - Kooperative Dynamik und Adaptivität
Koordinator: Prof. Theo Geisel, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Förderhöhe: ca. 8,5 Millionen Euro
Unser Gehirn ist enorm anpassungsfähig. Mit jeder neuen Erfahrung verändert es sich und reagiert auf die nächste Situation ein wenig anders. Wie arbeiten verschiedene, räumlich getrennte Strukturen des Nervensystems, wie Hirngebiete, Nervenzellen oder Moleküle zusammen, um bestimmte Funktionen des Gehirns hervorzubringen? Wie ergibt sich die Anpassungsfähigkeit des Gehirns aus dem kooperativen Zusammenspiel seiner Teile?
- Heidelberg/Mannheim - Genetische Determinanten neuronaler Informationsverarbeitung
Koordinator: Dr. Daniel Durstewitz, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Förderhöhe: ca. 9,6 Millionen Euro
In jüngerer Zeit gab es erhebliche Fortschritte bei der Identifizierung von Risikogenen für eine Reihe psychiatrischer Erkrankungen. Wissenschaftler des Bernstein Zentrums Mannheim/Heidelberg untersuchen den Zusammenhang zwischen genetisch vorbestimmten neuronalen Eigenschaften und deren Einfluss auf Verhalten und Kognition.
- München - Neuronale Repräsentationen von Raum-Zeit
Koordinator: Prof. Andreas Herz, Ludwig-Maximilians-Universität
Förderhöhe: 8,5 Millionen Euro
Bei jeder Sinneswahrnehmung entsteht eine Repräsentation unserer Umgebung im Gehirn, in der Raum und Zeit verknüpft sind. Wir hören, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt, oder sehen, wie sich ein Objekt durch den Raum bewegt. Welche neuronalen Prinzipien liegen dieser Fähigkeit des Gehirns zugrunde?
- Tübingen - Neuronale Mechanismen der Perzeptuellen Inferenz
Koordinator: Prof. Matthias Bethge, Max-Planck-Institut für Biologische Kybernetik
Förderhöhe: ca. 8 Millionen Euro
Perzeptuelle Inferenz nennen Wissenschaftler die Fähigkeit des Gehirns, Sinnesinformationen und Vorwissen zu einer schlüssigen Wahrnehmung zu kombinieren. Die Tübinger Forscher untersuchen, wie das komplexe Zusammenspiel vieler Zellen im Gehirn diese Leistung vollbringen kann.