Mehr neue Hirnzellen bei neugierigen Mäusen
15.05.2013 -
Erfahrungen führen zu messbaren Umstrukturierungen im Gehirn und beeinflussen so die Individualität von Lebewesen. Wissenschaftler aus Berlin, Dresden, Münster und Saarbrücken sind in einer Studie an Mäusen der Frage nach der Entstehung der Persönlichkeit im Gehirn auf den Grund gegangen. Entsprechend ihrer Aktivität und Unternehmungslust entwickelten genetisch identische Tiere mehr oder weniger neue Nervenzellen im Hirnareal namens Hippocampus. Die Forscher berichten in der Fachzeitschrift Science (2013, Online-Vorabveröffentlichung) über die Ergebnisse ihrer Untersuchung.
Beteiligt an der Arbeit waren das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Dresden und das DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD).
Neuronen erfahren Wandel
Im Laufe des Lebens lernen wir stets dazu. Erfahrungen prägen unser Verhalten und unsere Persönlichkeit. Dass man durch geistige Herausforderungen sein Gehirn stimulieren und bis ins hohe Alter hinein fit halten kann, weiß man schon lange. Das deutsche Netzwerk aus Neurologen, Entwicklungsbiologen, Verhaltensforschern und Informatikern hat nun erstmals gemessen, dass auch die Neubildung von Gehirnzellen durch Erfahrungen angefeuert wird.
Dazu beobachteten die Forscher das Verhalten von 40 genetisch identischen Mäusen und analysierten anschließend die Veränderungen in der Hirnstruktur der Nagetiere. In einem gemeinsamen Gehege waren die Tiere denselben Umweltfaktoren ausgesetzt. Zu den vielfältigen Erkundungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten hatte jede Maus gleichermaßen Zugang. „Gleichzeitig war das Gehege so abwechslungsreich, dass jede Maus in dieser Umgebung ihr ganz individuellen Erfahrungen machte. Deswegen unterschieden sich die Tiere im Laufe der Zeit immer mehr in ihrer Erfahrungswelt und in ihrem Verhalten“, erklärt Gerd Kempermann vom CRTD den Verlauf der Beobachtungen.
Auf das Wesen kommt es an
Den Nachweis dafür lieferten die Wissenschaftler mithilfe von besonderen Sonden, mit denen die Mäuse ausgestattet waren. Anhand der Funksignale der Mikrochips erfassten die Forscher Bewegungsprofile und quantifizierten die jeweilige Aktivität. Während des dreimonatigen Experiments wiesen die Nager immer deutlicher werdende persönliche Verhaltensmuster auf – sie reagierten individuell auf Reize, trotz gleicher Umwelt und identischem Erbut. Vom verhaltenen Stubenhocker bis hin zum extrovertierten Abenteurer offenbarten sich unterschiedlichste Charaktere.
„Die Tiere entwickelten in ihrer gemeinsamen Lebensumgebung unterschiedlich starke Aktivität. Diese korrelierte mit der Neubildung von Nervenzellen in der für Lernen und Gedächtnis zuständigen Hirnregion des Hippocampus“, so Kempermann. „Tiere, die besonders aktiv ihr Gehege erkundeten, hatten auch mehr neue Nervenzellen als Tiere, die sich vergleichsweise passiv verhielten.“
Mausmodell gilt auch für Menschen
Das Gehirn reagiert auf neue Umwelteinflüsse mit der „adulten Neurogenese“, der Neubildung von Neuronen im Hippocampus. Weder genetische Unterschiede noch die Umwelt scheinen auf die Individualisierung des Gehirns exklusiven Einfluss zu nehmen.
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Vielmehr ist ein komplexes Zusammenspiel der Faktoren für die Weiterentwicklung der Gehirnstruktur verantwortlich. Für die Wissenschaftler ist aber klar, dass die persönlichen Erfahrungen und die daraus folgenden Verhaltensmuster diese Individualisierung entscheidend steuern.
„Adulte Neurogenese kommt auch im menschlichen Hippocampus vor“, sagt Kempermann. „Wir vermuten deshalb, dass wir einer neurobiologischen Grundlage von Individualität auf die Spur gekommen sind, die auch für den Menschen gültig ist.“
Erkenntnisse übertragbar
Diese Erkenntnisse seien auch für andere biomedizinische aber auch psychologische und pädagogische Fragestellungen von großer Bedeutung, erläutert Ulman Lindenberger vom MPIB in Berlin. So zum Beispiel die Frage, auf welche Weise das Verhalten die kognitive Leistungsfähigkeit im Alter beeinflusst. In einer vergleichsweise unattraktiven Umwelt wuchsen die Mäuse aus der Kontrollgruppe des Experiments auf. Bei ihnen ermittelten die Forscher eine wesentlich geringere Neubildung von Hirnzellen. „Aus Sicht der Bildungsforschung zeigen unsere Experimente, dass eine reichhaltige Umwelt die Neubildung von Gehirnzellen und damit die Entwicklung von Individualität befördert“, bewertet Ulman Lindenberger die Ergebnisse.
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