Neurale Stammzellen aus ungewohnter Quelle

Die umprogrammierter Neuralleisten-Stammzellen übernehmen nach der Übertragung ins Gehirn von Mäusen, die kein Myelin produzieren können, diese Aufgabe: Sie bilden Oligodendrozyten (grün), die Myelin (rot) herstellen. <ic:message key='Bild vergrößern' />
Die umprogrammierter Neuralleisten-Stammzellen übernehmen nach der Übertragung ins Gehirn von Mäusen, die kein Myelin produzieren können, diese Aufgabe: Sie bilden Oligodendrozyten (grün), die Myelin (rot) herstellen. Quelle: MPI für Hirnforschung

10.05.2011  - 

Forschern des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt und für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg ist es gelungen, aus Stammzellen des peripheren Nervensystems Zellen des zentralen Nervensystems zu züchten. Das gelang ihnen ganz ohne gentechnische Eingriffe, wie die Wissenschaftler im Journal of Neuroscience (2011, Bd. 31, Ausg. 17, S. 6379-6391) berichten. Es genügt schon, die peripheren Stammzellen in der Petrischale unter ganz bestimmten Wachstumsbedingungen zu halten. Nach einer Weile entstehen dann Stützzellen, die im Gehirn die schützende Myelinschicht um die Nervenzellen ausbilden. Bisher beschränken sich die Forscher allerdings auf Mäuse. Ob Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen einmal von der Entdeckung profitieren können werden, steht noch in den Sternen.

Säugetiere haben nicht nur ein hochentwickeltes Nervensystem, sondern gleich zwei: das zentrale Nervensystem besteht aus Gehirn und Rückenmark, das periphere Nervensystem besteht aus Ansammlungen von Nervenzellen, die im ganzen Körper verteilt sind, zum Beispiel in den sensorischen Ganglien. Die beiden Systeme sind zwar eng miteinander gekoppelt, bestehen aber aus ganz unterschiedlichen Zellen, die auch eine unterschiedliche Geschichte haben. Die Zelltypen des peripheren Nervensystems stammen nämlich von Vorläuferzellen aus der sogenannten Neuralleiste im Embryo ab. Bislang wusste man, dass die Neuralleisten-Stammzellen dafür verantwortlich sind, bei Bedarf Nachschub an neuen Nerven- und Stützzellen des peripheren Nervensystems zu liefern. Dass sie offenbar auch in der Lage sind, Zellen des zentralen Nervensystems zu bilden, ist neu.

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Von peripher zu zentral

Entscheidend sind dabei nicht die Gene, sondern die Umgebungsbedingungen, in denen die Stammzellen gehalten werden. Die Freiburger und Frankfurter Wissenschaftler haben zusammen mit Kollegen aus Paris Stammzellen aus dem peripheren Nervensystem embryonaler und weniger Tage alter Mäuse unterschiedlichen Temperaturen und Nährstoffkonzentrationen ausgesetzt. Aus den Neuralleisten-Stammzellen entwickelten sich dabei unter bestimmten Bedingungen überraschenderweise auch verschiedene Typen von Stützzellen (Gliazellen) des zentralen Nervensystems wie Oligodendrozyten und Astrozyten. „Das Kulturmedium programmiert also die Neuralleisten-Stammzellen so um, dass sie ihre Identität verändern. Dies funktioniert, auch ohne dass wir die Zellen genetisch verändern“, erklärt Hermann Rohrer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung.

Faktoren in dem Kulturmedium aktivieren offenbar ein anderes genetisches Programm, so dass aus den Stammzellen andere Zelltypen entstehen. Welche Faktoren das sind, wissen die Forscher noch nicht genau. Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass der Wachstumsfaktor FGF (fibroblast growth factor) an der Umwandlung beteiligt ist.

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Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main

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Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik

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Neue Zellen übernehmen Aufgaben im Gehirn

Setzt man die auf diese Weise umprogrammierten Stammzellen in das Gehirn von Mäusen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien ein, dann entwickeln sie sich vor allen zu  Oligodendrozyten weiter, die die Myelinschicht um die Neurone des zentralen Nervensystems bilden und deshalb für die Reizweiterleitung unverzichtbar sind. Transplantationsexperimente der Forscher an genetisch veränderten Mäusen ohne Myelin belegen, dass die neuen Oligodendrozyten auch tatsächlich funktionieren und ihre Aufgabe wie das Original erfüllen. „Die umprogrammierten Stammzellen können dauerhaft Zellen für das zentrale Nervensystem bilden, und die neuen Zellen können dort integriert werden“, sagt Verdon Taylor vom Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik. Das könnte bei neurodegenerativen Erkrankungen eine Alternative zur Aktivierung neuronaler Stammzellen im Gehirn selbst sein, obwohl es auch hier kürzlich hoffnungsvolle Ansätze gab (mehr...). An möglichen Zelltherapien für Alzheimer oder Parkinson besteht schon jetzt ein großes gesellschaftliches Interesse, auch wenn sie aus seriöser wissenschaftlicher Sicht noch lange nicht bereit für den Klinikeinsatz sind, wie das Beispiel des umstrittenen und jetzt geschlossenen XCell-Centers in Düsseldorf zeigt (mehr...).

Die aktuellen Ergebnisse sind noch weit von der Klink entfernt. Noch weiß niemand, ob Stammzellen im peripheren Nervensystem erwachsener Menschen überhaupt vorhanden und zugänglich sind und ob sie in Kultur vermehrt und umprogrammiert werden können. „Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir aber nur, dass diese Stammzellen bei Mäusen das Potenzial haben, auch Oligodendrozyten hervorzubringen“, sagt Hermann Rohrer. Als nächstes wollen die Wissenschaftler genauer untersuchen, welche molekularen Mechanismen für die Umprogrammierung verantwortlich sind, ob Neuralleisten-Stammzellen auch im peripheren Nervensystem ausgewachsener Mäuse vorhanden sind und unter welchen Bedingungen diese umprogrammiert werden können.

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