Neue Medizin aus gespiegelten Molekülen

Spiegelmere sind Moleküle, die aus unnatürlichen RNA-Bausteinen bestehen. In chemischen Synthese-Automaten werden die Moleküle Stück für Stück zusammengebaut. <ic:message key='Bild vergrößern' />
Spiegelmere sind Wirkstoff-Moleküle, die aus unnatürlichen RNA-Bausteinen bestehen. In chemischen Synthese-Automaten der Firma Noxxon werden sie Stück für Stück zusammengebaut. Quelle: biotechnologie.de

18.08.2010  - 

Das Ziel der Berliner Biotech-Firma Noxxon Pharma ist ambitioniert: Es geht um nichts weniger, als eine neue Wirkstoffklasse auf dem konservativen Pharmamarkt zu etablieren. Noxxon setzt dabei auf die sogenannten Spiegelmere, dreidimensionale Strukturen aus DNA- oder RNA-Bausteinen. Durch einen Trick stellen die Biochemiker daraus sehr robuste Substanzen her: Sie bauen die Moleküle als Spiegelbild-Version zusammen. Mit Spiegelmeren sollen bestimmte Entzündungsreaktionen oder Krebserkrankungen im Körper gezielt eingedämmt werden. Erste klinische Studien mit den aussichtsreichsten Kandidaten laufen bereits. Dafür hat das Biotech-Unternehmen in diesem Jahr 35 Millionen Euro von privaten Investoren eingeworben. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert seit Jahren die Weiterentwicklung dieser neuartigen Technologie.

Wirkstoffe in Arzneien funktionieren meist nach einem ähnlichen Grundprinzip. Wie ein Schlüssel in ein Schloss passt ihre räumliche Struktur zu einer Stelle auf der Oberfläche eines Eiweißmoleküls, das an der Entstehung von Krankheiten im Körper beteiligt ist. Dockt der Wirkstoff an das Zielmolekül an, so blockiert er meist dessen Funktion und macht es so unschädlich. Derzeit herrschen zwei Substanzklassen auf dem Medikamentenmarkt vor: Kleine chemische Moleküle (small molecules) und Antikörper. Erstere kann man zwar in Tablettenform pressen und sie sind leicht einzunehmen. Doch wegen ihrer geringen Größe passen die kleinen Wirkstoffmoleküle oft an mehrere Zielmoleküle.  In der 51. Folge von biotechnologie.tv geht es auch um die Spiegelmere von Noxxon.Quelle: biotechnologie.tvNebenwirkungen sind daher oft unvermeidlich. Antikörper hingegen sind komplexe Eiweißmoleküle, die aufwendig in lebenden Zellen hergestellt werden müssen. Ihre Stärken können Antikörper insbesondere bei der gezielten Bekämpfung größerer Krankheitsmoleküle ausspielen. Die Nachteile: Antikörper müssen in die Blutbahn gespritzt werden, zudem können sie heftige Abwehrreaktionen des Immunsystems auslösen.

Spiegelverkehrte Nukleinsäuren als Medikamente

Kleine chemische Substanzen- große Biomoleküle:  Genau zwischen diesen beiden Wirkstoff-Welten liegen die Spiegelmere der Noxxon Pharma AG. Der Biochemiker Sven Klussmann gründete die Firma im 1997. Bereits mit seiner Doktorarbeit an der Freien Universität in Berlin hatte er die Grundlagen für die Technologie gelegt. Seit der Gründung ist Klussmann Forschungsleiter bei Noxxon. Heute sind knapp 60 Mitarbeiter in einem Gebäude des Biotechnolgie-Parks in Charlottenburg damit beschäftigt, eine ganz neue Klasse von Medikamenten herzustellen, die aus Nukleotiden, den DNA- oder RNA-Bausteinen, aufgebaut sind: „Diese Nukleinsäuren bilden dreidimensionale Strukturen aus, die wie Antikörper in der Lage sind, an Zielmoleküle im Körper zu binden“, erläutert Klussmann. 

Sven Klussmann ist Forschungsleiter bei der Noxxon Pharma AG. In den 1990er Jahren entwickelte er die Spiegelmer-Technologie.Lightbox-Link
Sven Klussmann ist Forschungsleiter bei der Noxxon Pharma AG. In den 1990er Jahren entwickelte er die Spiegelmer-Technologie.Quelle: biotechnologie.de
Noch vor wenigen Jahren hatten Biomediziner für RNA-Moleküle und ihren Einsatz in Diagnose und Therapie allerdings wenig übrig. Denn das Molekül ist in der Natur extrem instabil und wird sehr schnell abgebaut. Klussmann und sein Team haben das Problem mit einem molekularen Trick sozusagen „im Handumdrehen“ in den Griff bekommen:

„Wir synthetisieren im Labor eine spiegelbildliche Version eines RNA-Moleküls. Mit Bausteinen, die in der Natur so nicht vorkommen“, sagt Klussmann. Eine solches spiegelverkehrtes Molekül ist theoretisch genauso wirksam wie sein natürliches Vorbild- und dazu sehr robust. „Wir machen uns dabei die Händigkeit der Natur zunutze“, sagt Klussmann.

NOXXON Pharma AG

Die Biotechnologie-Firma wurde 1997 in Berlin gegründet und beschäftigt hier mittlerweile  knapp 60 Mitarbeiter.

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Alle Erbmoleküle in Lebewesen sind rechtshändig. Auf diese Orientierung sind auch alle Enzyme und Immunzellen geeicht, die für den raschen Abbau der RNA sorgen. Doch mit linksorientierten RNA-Schnipseln kann der Körper nicht viel anfangen, sie sind nahezu unsichtbar und werden nicht abgebaut. „Die Spiegelmere schwimmen fast wie Plastik im Blut herum und werden über die Niere ausgeschieden“, sagt Klussmann.

Nierenentzündungen und Blutkrebserkrankungen im Visier

Der Spiegeltrick ist also ein zentraler Aspekt der Technologie von Noxxon. Selbst im Firmennamen findet er sich wieder. Um für bestimmte Zielmoleküle im Körper überhaupt das passende RNA-Molekül zu finden, durchforsten die Biochemiker riesige Molekül-Sammlungen. Nach mehreren Verfahrensschritten bleibt in einem evolutionären Auswahlprozess im Reaktionsgefäß nur eine einzige Molekülstruktur übrig, mit der die Forscher weiterarbeiten.

Ein Spiegelmer ist eine  Nukleinsäure mit einer definierten 3D-Struktur. Deshalb kann das Molekül etwa an krankmachende Eiweiße im Körper gezielt binden und sie blockieren.Lightbox-Link
Ein Spiegelmer ist eine Nukleinsäure mit einer definierten 3D-Struktur. Deshalb kann das Molekül etwa an krankmachende Eiweiße im Körper gezielt andocken und sie blockieren.Quelle: Noxxon Pharma AG

Am weitesten vorangetrieben hat Noxxon die Entwicklung der beiden Spiegelmer-Kandidaten namens NOX-E36 und NOX-A12. Mit diesen etwa 40 Nukleotide großen RNA-Schnipseln sollen Nierenentzündungen gestoppt werden oder aber die Stammzelltherapie zur Behandlung von Blutkrebserkrankungen unterstützt werden. Nach vielversprechenden Ergebnissen im Tiermodell haben bereits klinische Studien der Phase I mit den beiden Hoffnungsträgern begonnen. Die Moleküle lässt Noxxon von einem Lohnhersteller in den USA aus den chemischen Einzelbausteinen im 100-Gramm Maßstab zusammenbauen. 

In ersten klinischen Tests waren die Spiegelmere sicher

„Beide Kandidaten waren sehr sicher und wir haben sogar in gesunden Freiwilligen schon erste Anzeichen von Wirksamkeit gesehen“, sagt Klussmann. Noch in diesem Jahr sind weitere klinische Studien geplant. Bis 2012 möchte Noxxon die Entwicklung seiner aussichtsreichsten Kandidaten bis in die Phase II geführt haben, in der die Wirksamkeit bei Patienten getestet wird.

Für dieses Vorhaben kann sich Noxxon auf ein beachtliches Finanzpolster stützen. Erst kürzlich hat das Berliner Biotech-Unternehmen von privaten Investoren insgesamt 35 Millionen Euro eingesammelt.

 Auch das Bundesminsterium für Bildung und Forschung unterstützt im Rahmen der Förderinititative „KMU-innovativ“ die vorklinische und die frühe klinische Entwicklung der Spiegelmere. Die BMBF-Förderung zielt darauf ab, kleinen und mittleren Unternehmen bei Forschung und Entwicklung von innovative und risikoreiche Projekte unter die Arme zu greifen.

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Auch die konservative Pharma-Industrie interessiert sich zunehmend für die neuartigen Therapeutika aus Berlin.  Vor Jahren startete Noxxon eine nach eigenen Angaben sehr erfolgreiche Kooperation mit Pfizer, die mittlerweile ausgelaufen ist. Derzeit bestehen zwei Forschungs-Kooperationen mit den Pharmakonzernen Roche und Eli Lilly.

Noxxon-Mann Klussmann weiß, dass nur gute klinische Ergebnisse die zurückhaltenden Pharmakonzerne von den Spiegelmeren überzeugen können: „Sobald wir die Wirksamkeit unserer Moleküle bei Patienten gezeigt haben, wird das letzte Eis brechen.“ Bis ein Spiegelmer auf den Markt kommen wird, werden noch millionenschwere Kollaborationen mit Pharmakonzernen nötig sein.


Autor: Philipp Graf

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