Multiple Sklerose: Wie Immunzellen ins Gehirn eindringen

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Die grün markierten T-Zellen hinterlassen bei ihren Bewegungen eine Spur. Einige verlassen die roten Blutgefäße und kriechen durch das umgebende Hirngewebe. Quelle: Bartholomäus/MPI für Neurobiologie

21.10.2009  - 

Das Immunsystem verfügt über ein hochspezialisiertes Arsenal an Waffen, um uns vor Krankheitserregern zu schützen. Um so schlimmer, wenn es sich gegen den eigenen Körper richtet. Genau das geschieht aber bei Multipler Sklerose. Immunzellen schlüpfen aus den Blutgefäßen ins Nervengewebe des Gehirns und überwinden damit die als sehr sicher geltende Blut-Hirn-Schranke. Forscher des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried konnten das nun erstmals live unter dem Mikroskop beobachten. Dabei kamen ganz neue Verhaltensweisen der Immunzellen ans Licht, berichten die Wissenschaftler im Fachblatt Nature (Onlineveröffentlichung, 14. Oktober 2009).



Trotz intensiven Forschungsanstrengungen ist Multiple Sklerose oder MS nach wie vor eine unheilbare und gefürchtete Krankheit. Ärzte stehen bei MS vor einer großen Herausforderung, weil die vielfältigen und diffusen Symptome eine schnelle Diagnose erschweren. Die Wissenschaft weiß zwar mittlerweile, dass das eigene Immunsystem verrückt spielt. Doch ein genauer Blick auf die dabei ablaufenden Mechanismen gelang bisher noch nicht. Für die Patienten bedeutet die Diagnose MS den Beginn einer ungewissen Zeit. Bei vielen Erkrankten bilden sich die Anzeichen wieder vollständig zurück, andere haben schon nach wenigen Jahren unter erheblichen Einschränkungen zu leiden. Diese können so stark werden, dass der Patient stirbt.

Dieser Film zeigt, wie T-Zellen die Blutgefäße im Gehirn einer Ratte verlassen.Quelle: Max-Planck-Institut für Neurobiologie

Lange galt die Blut-Hirn-Schranke als unüberwindlich
Schätzungen zufolge sind weltweit ca. 2,5 Millionen Menschen von MS betroffen. In Deutschland leben nach derzeitigen Hochrechnungen ca. 122.000 MS-Erkrankte; jährlich werden ca. 2.500 Menschen neu mit MS diagnostiziert. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer. Die Erkrankung wird in der Regel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr festgestellt - mit geringerer Häufigkeit tritt sie aber auch schon im Kindes- und Jugendalter auf. Erstdiagnosen nach dem 60. Lebensjahr sind selten. Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung. Das Abwehrsystem, das eigentlich Krankheitserreger aufspüren und zerstören soll, richtet sich gegen den eigenen Körper, in diesem Fall das Nervensystem. Das resultiert in einer Vielzahl an unterschiedlichen Symptomen, die von anfänglichen Sehunschärfen bis hin zu Lähmungen ganzer Körperteile reichen können. 

Gehirn und Rückenmark sind die Schaltzentralen des Körpers. Von hier aus werden alle Funktionen gesteuert. Wegen ihrer Bedeutung sind die delikaten Nervenzellen daher besonders gut geschützt. Zunächst einmal vor äußeren Verletzungen, durch Wirbelsäule und den stabilen Schädelknochen. Gefahren von innen, zum Beispiel im Blut zirkulierende Krankheitserreger, werden dagegen durch eine besondere Art von Blutgefäßen abgewehrt. Die Wände dieser Gefäße bilden eine Barriere, die Zellen und viele kleinere Partikel nicht passieren können. Lange galt die sogenannte Blut-Hirn-Schranke als unüberwindlich.

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Bei MS und einigen anderen Erkrankungen ist der Schutzwall aber offenbar löchrig. Aggressiven Zellen des Immunsystems gelingt deshalb der Durchbruch ins Hirngewebe. Einmal dort eingedrungen richten diese Zellen großen Schaden an: Sie lösen Entzündungsreaktionen aus und greifen Nervenzellen auch direkt an. Lange Zeit war es rätselhaft, wie ihnen das gelingt. Zwar konnten schon in den 80iger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Wissenschaftler zeigen, dass unter bestimmten Bedingungen so genannte T-Zellen Bestandteile des körpereigenen Hirngewebes erkennen und auch attackieren. Die Wanderung dieser Zellen von ihrem Entstehungsort im Knochenmark, ihrer Wanderung durch den Blutkreislauf bis hin zum Eindringen in das Hirngewebe und die resultierenden Schäden klärten sich mit Hilfe von Gewebeschnitten Stück für Stück auf. Eine tatsächliche Beobachtung dieser Zellbewegungen blieb jedoch lange unmöglich.

Aggressive Zellen live beobachten

Diese Hürde nahmen nun Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie und der Universitätsmedizin Göttingen. Sie markierten T-Zellen mit dem Grün Fluoreszierenden Protein (GFP) in Ratten. T-Zellen sind die Alleskönner des Immunsystems. Sie erkennen Krankheitserreger und differenzieren sich dann je nach Bedarf aus. T-Killerzellen zerstören kranke Zellen direkt, T-Helferzellen locken zusätzliche Immunzellen an und sogenannte regulatorische T-Zellen sorgen dafür, dass die Immunantwort nicht über das Ziel hinausschießt und etwa chronische Entzündungen hervorruft.

Die markierten T-Zellen verfolgten die Wissenschaftler nun im lebenden Gewebe mit einem Zwei-Photonen-Mikroskop. Diese gezielte Beobachtung der Zellen im Verlauf der Krankheit bescherte den Wissenschaftlern eine ganze Reihe von neuen Einblicken in das Verhalten dieser Zellen. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die T-Zellen die Grenzbarriere zwischen Blut und Nervengewebe in mehreren Schritten überwinden. Außerhalb des Nervensystems bewegten sich die markierten Zellen wie erwartet: Die meisten Zellen ließen sich vom Blutstrom treiben. Nur vereinzelt blieben Zellen für kurze Zeit an den Gefäßwänden haften, bevor sie in Richtung des Blutstroms weiterrollten oder wieder mitgerissen wurden. Erreichten die T-Zellen jedoch die Gefäße des Nervensystems, so verhielten sie sich völlig anders. Immer häufiger beobachteten die Wissenschaftler, wie sich die Zellen an den Gefäßwänden festsetzten. "Richtig spannend wurde es dann, als wir sahen, dass die Zellen kriechen. Das war ein bisher gänzlich unbekanntes Verhalten für T-Zellen", berichtet Ingo Bartholomäus vom MPI für Neurobiologie. "Kriechen" beschreibt hier eine aktive Bewegung der Zellen, die vor allem gegen den Blutstrom verläuft. Die Forscher beobachteten, wie die T-Zellen für mehrere Minuten bis Stunden an den Gefäßwänden entlangwanderten. Am Ende dieser Suchbewegung wurden die Zellen entweder wieder vom Blutstrom mitgerissen oder sie taten etwas nie zuvor Beobachtetes: Sie schlüpften durch die Gefäßwand.

Nach der Begegnung mit Fresszellen greifen die T-Zellen an

Auf der anderen Seite der Blut-Hirn-Schranke angekommen, setzten sie ihre Suche nach Krankheitserregern zunächst im Umkreis der Blutgefäße fort. So war es nur eine Frage der Zeit, bis die T-Zellen auf weitere Anggehörige des Abwehrsystems stießen, die sogenannten Fresszellen. Traf eine der beweglichen T-Zellen auf solch eine Fresszelle, so bildeten die beiden ein eng verbundenes Paar. Einige dieser Paare blieben für mehrere Minuten unzertrennlich. Dass T-Zellen erst mit Fresszellen in Kontakt treten müssen, um ihre Immunfunktion auszuüben, ist seit längerem bekannt. Völlig neu ist, dass Forscher erstmals solche Interaktionen direkt an der Blut-Hirn-Schranke beobachten.

Und tatsächlich begannen die T-Zellen nach dem Kontakt mit den Fresszellen, entzündungsfördernde Botenstoffe auszuschütten und so den Angriff auf das Nervensystem einzuleiten. Als eine der Folgen durchquerten immer mehr T-Zellen die Wände der Blutgefäße. "Anscheinend ist die Aktivierung der T-Zellen an der Grenze zum Nervengewebe somit ein entscheidendes Signal für das Eindringen der Immunzellen", sagt Max-Planck-forscher Alexander Flügel und Leiter der Studie.

Wie entsteht das verhängnisvolle Kriechen? 

Und noch etwas fanden die Wissenschaftler durch die "Live-Beobachtungen" heraus: Gaben sie spezielle Antikörper ins Blut, die bereits in der MS-Therapie eingesetzt werden, so verschwanden die kriechenden Zellen. "Bisher wurde angenommen, dass diese Antikörper das Austreten der T-Zellen aus den Blutgefäßen blockieren", so Ingo Bartholomäus. "Unsere Beobachtungen zeigen nun, dass sie bereits das Kriechen verhindern, also einen Schritt früher eingreifen als bisher angenommen."

Damit ist zwar noch nicht geklärt, warum die T-Zellen überhaupt mit dem verhängnisvollen Kriechen beginnen. Doch die Beobachtungen ergeben ein viel detaillierteres Bild von den Bewegungen und dem Eindringen der Immunzellen in das Zentrale Nervensystem. Mit diesem Wissen lässt sich auch die ständige Immunüberwachung im gesunden Gewebe besser verstehen. Doch wie bei allen wissenschaftlichen Entdeckungen werfen die neuen Erkenntnisse auch eine Reihe neuer Fragen auf: Woran haften die Immunzellen auf den Gefäßoberflächen, und wie erkennen sie eine geeignete Stelle für den Wechsel zwischen Blut- und Nervensystem? Was leitet die Zellen nach dem Durchbrechen der Blut-Hirn-Schranke? Bis neue Medikamente zur Behandlung von Krankheiten wie der Multiplen Sklerose entwickelt werden können, müssen noch viele dieser Fragen beantwortet werden. 

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