Bundestagsdebatte zur Stammzellforschung: Stichtag auf dem Prüfstand

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Stammzellen stehen derzeit im Mittelpunkt der parlamentarischen Debatte um eine mögliche Änderung der aktuellen Gesetzeslage. Quelle: DFG

15.02.2008  - 

Es war keine gewöhnliche Debatte im Deutschen Bundestag: Vier Stunden lang stritten die Abgeordneten am 14. Februar über mögliche neue Regeln für die Stammzellforschung, vier konkurrierende Anträge - frei von jeglichem Fraktionszwang - standen zur Diskussion. Die Positionen könnten dabei unterschiedlicher nicht sein, die Gräben laufen quer durch alle Parteien. Im Mittelpunkt steht dabei die aktuelle Stichtagsregelung, die im Jahr 2002 als Kompromisslösung gefunden wurde. Diese erlaubt Wissenschaftlern die Arbeit mit solchen embryonalen Stammzellen, die vor dem 1. Januar 2002 hergestellt wurden. Mit der neuerlichen Debatte steht der Stichtag nun auf dem Prüfstand. Im März soll über eine Neuregelung abgestimmt werden. Je nachdem, wie die Abgeordneten dann entscheiden, könnte dieser Stichtag verschoben, beibehalten, verschärft oder ganz abgeschafft werden. Bislang haben die Befürworter einer Liberalisierung die Oberhand.

Debatten im Deutschen Bundestag sind für die Abgeordneten täglich Brot, doch an diesem Donnerstag vormittag ist die Stimmung anders als sonst. Die Szenerie im Plenarsaal erinnert eher an eine Film- oder Theaterpremiere, alle Beteiligten sind hoch konzentriert und gespannt. Bundeskanzlerin Angelika Merkel ist ebenso anwesend, wie fast alle Minister aus dem Kabinett. Das Thema der Diskussion hat schon in den zurückliegenden Tagen, Wochen und Monaten die Gemüter beschäftigt. Insbesondere bei den Christdemokraten schlugen die Wellen hoch. Beim Bundesparteitag in Hannover hatten Bundeskanzlerin Merkel und Bundesforschungsministerin Annette Schavan eine Mehrheit der Delegierten dazu gebracht, sich nicht grundsätzlich gegen eine Verschiebung des Stichtages im deutschen Stammzellgesetz auszusprechen. Dies wiederum hat auch unter Kirchenvertretern dazugeführt, sich unterschiedlich zu positionieren - sowohl für als auch gegen eine Neuregelung.

Auf der Basis von adulten Stammzellen haben Wissenschaftler einer Leipziger Biotech-Firma ein neues Verfahren zur Wundheilung entwickelt.Quelle: youtube

Debatte ohne Fraktionszwang erlaubt

Im Parlament sind die Abgeordneten in dieser Frage nun frei vom Fraktionszwang, entscheiden lediglich nach ihrem Gewissen – ganz ähnlich wie vor sechs Jahren, als der Umgang mit embryonalen Stammzellen das erste Mal im Parlament diskutiert wurde. Auch damals war die Debatte hochemotional, viele sprechen rückblickend von einer der "Sternstunden im Parlament". Damals einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss in Sachen Stammzellforschung: Die Forschung an embryonalen Stammzellen wurde nicht verboten, aber strengen Regeln unterworfen. Seitdem dürfen Wissenschaftler in Deutschland nur mit Zellen arbeiten, die es zum Zeitpunkt des Gesetzes (Stichtag 1. Januar 2002) bereits gab. Jede Einfuhr wird zudem vom Robert-Koch-Institut und der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellforschung geprüft, bis heute wurden 25 Anträge genehmigt (Übersicht aller Anträge: hier klicken). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass von Deutschland aus kein Anreiz gegeben wird, Embryonen für Forschungszwecke zu benutzen.

Embryonale Stammzellen...
... können sich in nahezu alle menschlichen Zelltypen verwandeln. Gewonnen werden sie aus Embryonen zwischen dem vierten und siebten Tag nach der Befruchtung der Eizelle.

Wissenschaft fordert Zugang zu neueren Zelllinien

Inzwischen beklagen jedoch viele Wissenschaftler, dass die ihnen zur Verfügung stehenden Zellen den aktuellen Anforderungen der Forschung nicht mehr entsprechen – viele Zellinien sind demnach zu alt, mit genetischen Defekten belastet bzw. mit tierischem Material verunreinigt. Von insgesamt 500 welweit existierenden Stammzelllinien können deutsche Forscher aufgrund der Stichtagsregelung nur noch auf rund 20 zugreifen. Wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bereits im Jahr 2006 in einer umfangreichen Stellungsnahme betonte, sind therapeutisch relevante Arbeiten damit kaum durchführbar (mehr...).

Adulte Stammzellen...
... kommen im erwachsenen Körper vor. Sie sind für die Regeneration des Organs zuständig, in dem sie angesiedelt sind. Ihr Entwicklungspotenzial ist deshalb beschränkt. 

Zudem riskieren deutsche Forscher durch die aktuelle Gesetzeslage Strafverfolgung, wenn sie im Ausland mit Zellen jüngeren Datums arbeiten oder mit Arbeitsgruppen kooperieren, die mit solchen Zellen zu tun haben.

Alle Positionen im Überblick

Auf Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel haben die Forderungen aus der Wissenschaften nun den Deutschen Bundestag erreicht. Im März soll darüber abgestimmt werden, ob das heute gültige Stammzellgesetz neu gefasst werden soll. Vier Gesetzesentwürfe sowie ein Gruppenantrag auf Beibehaltung der aktuellen Regelung stehen dabei zur Diskussion:

1) Initiatoren: René Röspel (SPD), Ilse Aigner (CSU), Jörg Tauss (SPD)

Forderung: Der Stichtag wird einmalig auf den 1. Mai 2007 verschoben und somit an neue wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst, ohne dass die Grundausrichtung des Gesetzes verändert wird. Auf diese Weise bleibt der Schutzmechanismus des Stammzellgesetzes erhalten und es bleibt gewährleistet, dass von Deutschland aus nicht die Gewinnung embryonaler Stammzellen oder eine Erzeugung von Embryonen zu diesem Zweck veranlasst wird. Angesichts der Probleme im Zusammenspiel von Strafrechtsdogmatik und Stammzellgesetz ist durch eine Änderung der §§ 2 und 13 StZG eine Klarstellung des Anwendungsbereichs des Stammzellgesetzes auf das Inland vorzunehmen. Hierdurch werden Unsicherheiten im Hinblick auf die Reichweite der Regelung des Stammzellgesetzes beseitigt und es wird dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot Rechnung getragen.

Gesetzentwurf: Drucksache 16/7981 als PDF-Download

2) Initiatoren: Priska Hinz (Die Grünen), Julia Klöckner (CDU), Herta Däubler-Gmelin (SDP)

Forderung: Hinsichtlich der Verwendung von embryonaler Stammzellen wird der Anwendungsbereich des Gesetzes auf solche Stammzellen beschränkt, die sich im Inland befinden (§ 2 StZG), und die Strafbarkeitsbestimmung (§13 StZG) entsprechend beschränkt. Damit können die beschriebenen Unsicherheiten und Problemfälle künftig nicht mehr auftreten.

Gesetzentwurf: Drucksache 16/7984 als PDF-Download

Forderung: Mit Blick auf die im Gesetz verfolgten Schutzzwecke – Schutzrechte für Embryonen und für Paare, die Embryonen im Ausland für die Stammzellforschung zur
Verfügung stellen, Freiheitsrechte für die Forschung sowie Anspruchsrechte von Patienten – liegen seit der Debatte um das Stammzellgesetz in den Jahren 2001/2002 keine überzeugenden neuen wissenschaftlichen, rechtlichen oder ethischen Argumente vor, die eine Änderung des Stammzellgesetzes und des Stichtages begründen.

Gruppenantrag: Drucksache 16/7985  als PDF-Download

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3) Initiatoren: Ulrike Flach (FDP), Katharina Reiche (CDU), Ralf Stöckel (SPD)

Forderung: Der Stichtag für die Einführung und Verwendung von embryonalen Stammzelllinien wird gestrichen und damit der Anwendungsbereich der Stammzellforschung erweitert. Die Strafbewehrung entfällt dadurch.

Gesetzentwurf: Drucksache 16/7982 als PDF-Download

4) Initiator: Hubert Hüppe (CDU), Marie-Luise Dött (CDU)

Forderung: Das Stammzellgesetz wird so geändert, dass die Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen nicht mehr zulässig ist.

Gesetzentwurf: Drucksache 16/7983 als PDF-Download


Welche dieser Positionen sich am Ende durchsetzen wird, ist noch offen. Gute Chancen hat der Entwurf von René Röspel, in dem eine einmalige Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007 vorgeschlagen wird. 2002 gehörte der SPD-Abgeordnete noch zu den Gegnern jeglichen Imports embryonaler Stammzellen. Heute plädiert er – gemeinsam mit rund 170 Unterstützern – für eine Lockerung. „Auch mit dem neuen Stichtag geht von Deutschland kein Anreiz zur Tötung von Embryonen für Forschungszwecke aus. Die anderen Vorschläge werden die Stammzellforschung in Deutschland schleichend austrocknen“, warnte er bei der Debatte im Bundestag und warb daher für seinen Kompromissvorschlag.

Ernst-Ludwig Winnacker, Generalsekretär des ERCLightbox-Link
Ernst-Ludwig Winnacker, Generalsekretär des Europäischen Forschungsrates und ehemaliger DFG-Präsident: "Dass die Gegner der Stammzellforschung die bisher fehlenden Therapien den Forschern zum Vorwurf machen, ist absurd. Was würden unsere Kritiker sagen, wenn man Stammzellen voreilig eingesetzt hätte, um dann einen Rückschlag zu erleiden? Und hat man denn völlig vergessen, wie lange die Entwicklung »normaler« Arzneimittel heute dauert? Sechs Jahre sind nichts in der Entwicklung völlig neuer Therapiekonzepte, schon gar nicht nicht in einem derart innovativen Arbeitsgebiet." (DIE ZEIT, 7. Februar 2008) mehr

Anderen ist dies noch nicht weit genug. So wollen die Politikerinnen Ulrike Flach (FDP) und Katharina Reiche (CDU) den Stichtag ganz streichen, 85 Mitstreiter sitzen bereits mit im Boot. „Die bisherige Einschränkungen sind eine folgenschwere Behinderung der medizinischen Forschung“, sagte CDU-Abgeordnete Katharina Reiche am Donnerstag und verwies auf die Unverzichtbarkeit der embryonalen Stammzellforschung – auch für die Weiterentwicklung alternativer Wege, sei es mit adulten Stammzellen oder reprogrammierten Zellen, wie sie japanische Forscher jüngst vorgestellt haben (mehr...).

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Priska Hinz: "Keine neuen ethischen Erkenntnisse"

Aber auch am anderen Ende des Meinungsspektrums wurde heiß geworben. So zeigte Grünen-Abgeordnete Priska Hinz nach wie vor Unverständnis für eine Lockerung des aktuellen Gesetzes, insbesondere weil es aus ihrer Sicht seit 2002 keine neuen ethischen Erkenntnisse gegeben habe. 114 Unterstützer dieser Linie konnte sie bereits hinter sich vereinen. „Die embryonale Stammzellforschung kann gegenüber dem Embryonenschutz keine gleichwertige Hochrangigkeit oder therapeutische Erfolge für sich beanspruchen“, sagte sie. Zudem sei auch mit den vor 2002 hergestellten Stammzelllinien gute Forschung möglich, wie die bisherigen Publikationen auf dem Feld beweisen würden. Eine Verschiebung des Stichtags verglich sie deshalb mit einer Wanderdüne, bei der die Forscher unverhältnismäßig viel Land gewinnen. Unterstützung erhielt die Abgeorndete unter anderem von ihrem Parteikollegen Fritz Kuhn. „Das Signal, das von einer einmaligen Verschiebung ausgeht, ist fatal. So war der Kompromiss von 2002 nicht gemeint“, schleuderte er nahezu in Richtung René Röspel.

Im Netz gefunden

Der Berliner Max-Planck-Forscher James Adjaye hat die Debatte live im Bundestag mitverfolgt. Aufgrund der aktuellen Gesetzeslage musste er bereits Kontakte zu britischen Kollegen abbrechen. Jetzt hofft er auf eine Lockerung. Sehen Sie ein Kurzinterview bei der Netzzeitung.

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Norbert Hüppe: "Embryonen haben volle Menschenwürde"

Sichtlich emotional argumentierte auch CDU-Abgeordnete Hubert Hüppe. Wie bereits vor sechs Jahren plädierte er erneut für ein komplettes Verbot der embryonalen Stammzellforschung: „Damals haben 266 Abgeordnete für ein solches Verbot gestimmt, weil menschliches Leben nicht für Forschungszwecke getötet werden darf.“ Aus seiner Sicht gelte dies heute - angesichts der vielversprechenden Alternativen - noch  mehr als damals. "Es geht nicht um irgendeinen Müll der Reproduktionsmedizin, sondern um männliches oder weibliches menschliches Leben", so Hüppe. Schließlich haben Embryonen "volle Menschenwürde", selbst wenn sie "überzählig" seien und nicht mehr ausgetragen würden.

Annette Schavan: "Embryonale Stammzellen werden noch gebraucht"

Am Ende der Debatte meldete sich schließlich auch Bundesforschungsministerin Annette Schavan zu Wort. „Niemand will die grenzenlose Forschung und stellt den Embryonenschutz in Frage“,  sagte sie und verwies zudem darauf, dass 97 Prozent der deutschen Stammzellförderung seit 2000 in Arbeiten mit adulten Stammzellen geflossen sind. Dennoch müssten Vorhaben an embryonalen Stammzellen ermöglicht werden, weil sie für die Weiterentwicklung ehtisch unbedenklicher Alternativen dringend gebraucht werden, so Schavan.  Aus diesem Grund setzt sich die Ministerin für eine einmalige Verschiebung des Stichtags ein.

Broschüre Regenerative Medizin

Regenerative Medizin -  Selbstheilungskraft des Körpers verstehen und nutzen

Die Regenerative Medizin will mithilfe von Zellen heilen, Krankheiten erforschen oder Wirkstoffe testen. Einen Überblick zur Forschung in Deutschland bietet die Broschüre "Regenerative Medizin".


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