Neurodegenerative Erkrankungen: Ungewöhnliche Allianzen gefragt

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Neue Allianzen im Kampf gegen das "Trio infernale": Spezialisten für Alzheimer, Parkinson und Multiple Sklerose diskutieren in Genf. Quelle: Merck Serono

23.02.2011  - 

Schon seit Jahrzehnten arbeiten Forscher daran, wirksame Therapien gegen neurodegenerative Erkrankungen zu entwickeln. Der Weg ist allerdings beschwerlich, wie das Beispiel Merck zeigt. Erst jüngst musste der Darmstädter Pharmakonzern seinen einstigen Hoffnungsträger im Kampf gegen multiple Sklerose endgültig begraben.

Um Kräfte zu bündeln, gehen Hochschulen und Unternehmen deshalb immer mehr neue Wege. So hat das Bundesforschungsministerium das Know-How in Deutschland beim Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) gebündelt. Aber auch bei Merck Serono werden Wände niedergerissen. Das neue Schlagwort hier wie da lautet: Interdisziplinarität.

Es war ein Tag der Verbindungen. Merck Serono, der biotechnologische Arm des in Darmstadt beheimateten, deutschen Pharmaunternehmens Merck, lud ins Hauptquartier nach Genf, um frischen Wind in die Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen zu bringen. Verbindungen sollten die Spezialisten, Forscher und Patienten untereinander knüpfen, die sich üblicherweise eher isoliert jeweils mit Alzheimer, Parkinson oder multipler Sklerose beschäftigen. Das Unternehmen selbst hat die Grenzen zwischen den Disziplinen schon eingerissen und eine gemeinsame Forschungsabteilung für alle neurodegenerativen Erkrankungen geschaffen.

Pierluigi Nicotera, Leiter des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn.Lightbox-Link
Pierluigi Nicotera, Leiter des Deutschen Zentrums für neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn.Quelle: Merck Serono
Einer, der sich mit Interdisziplinarität auskennt, ist Pierluigi Nicotera. Der Biomediziner leitet das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn – eines der ersten nationalen Forschungszentren, in denen das Bundesforschungsministerium alle Ressourcen um eine Indikation bündelt. In Genf beschwor Nicotera die Forscher, sich aufs Grundsätzliche zu besinnen: „Warum verlieren die Nervenzellen ihre Verbindungen?“

Pharmazeutisches Minenfeld: Neurodegenerative Erkrankungen

Merck Serono hofft, die Frage irgendwann einmal zu beantworten und mit Medikamenten zu therapieren. Allerdings – und das musste das Unternehmen in den vergangenen Monaten schmerzlich erfahren – gilt das Gebiet nicht umsonst als pharmazeutisches Minenfeld. Alzheimer, Parkinson, Multiple Sklerose: Das Trio infernale der neurodegenerativen Erkrankungen wird immer mehr Menschen betreffen. Allein in Deutschland könnten im Jahr 2030 zwei Millionen Menschen an Alzheimer leiden. Ein großer Markt. Aber ein sehr schwieriger. Der Pharmaindustrie bereiten neurodegenerative Erkrankungen seit jeher Kopfzerbrechen. Trotz milliardenschwerer Forschungsprogramme ist der Schlüssel zur ursächlichen Bekämpfung noch nicht gefunden, nur Symptome können bisher gelindert werden. Wegen der komplexen Zusammenhänge im Gehirn ist die Suche nach einem zielgenauen, sicheren und potenten Wirkstoff bisher erfolglos geblieben.

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Merck Serono hat reagiert und die Erforschung von Parkinson und Alzheimer in einer Abteilung zusammengelegt. Dieser Grad der Interdisziplinarität ist neu, auch für die Wissenschaftler. „Ich bin traditionell eher ein Alzheimer-Mann“, sagt der Leiter der in Boston angesiedelten Verbundabteilung, Mark Shearman. „Aber ich lerne jeden Tag dazu.“

Mit Neuordnung der Forschung Rückschlägen begegnen

Mit der interdisziplinären Schneise, die Merck Serono in die Forschung geschlagen hat, hofft das Unternehmen, in Zukunft mehr Erfolg zu haben als derzeit. In kurzer Zeit musste das traditionsreiche Unternehmen aus Darmstadt in jüngster Zeit gleich zwei Rückschläge auf dem Gebiet der neurodegenerativen Erkrankungen verkraften. Der Beratungsausschuss der europäischen Arzneimittelzulassungsbehörde EMA hat die Zulassung von Cladribin, Merck Seronos Hoffnungsträger zur Behandlung von Multipler Sklerose, nicht empfohlen. Der Ausschuss vertritt die Ansicht, dass auf Grundlage der zurzeit vorliegenden Daten die Vorteile des Arzneimittels die Risiken nicht aufwiegen und sich demzufolge gegen eine Zulassung ausgesprochen. Aus diesem Grund hat sich der Pharmakonzern inzwischen auch entschlossen, den Zulassungsantrag für Cladribin komplett zurückziehen. Und auch Salfinamid, der zweite große Hoffnungsträger des Unternehmens im Bereich neurodegenerativer Erkrankungen, hat im Herbst 2010 in einer klinischen Studie der finalen Testphase III nicht überzeugt. Salfinamid sollte Parkinson-Patienten helfen, die an Dyskinesie leiden. Die Bewegungsstörung ist eine Nebenwirkung eines Medikaments, das die zurückgegangene Dopamin-Produktion im Gehirn wieder ankurbelt.

In der 70. Folge von biotechnologie.tv stellen wir unter anderem neue Forschungsergebnisse aus dem DZNE in Bonn vor.Quelle: biotechnologie.tvIn vielen Fällen resultiert das bei den Patienten allerdings in unkontrollierten Bewegungen des ganzen Körpers.

Tom Isaacs kennt diese Bewegungen ganz genau.  „Ich hoffe, Sie können sich auf meine Worte konzentrieren“, sagte er bei seinem Vortrag in Genf. Isaacs, der im Alter von 27 Jahren mit Parkinson diagnostiziert wurde, ist Mitgründer des „The Cure Parkinson's Trust“ und war als Vertreter von Patientengruppen nach Genf eingeladen.„Ich weiß, es ist schwierig, wenn ich hier oben zittere wie eine Waschmaschine im Schleudergang.“ Isaacs forderte die anwesenden Ärzte und Forscher auf, den Patienten mehr zuzuhören. Denn aus seiner Sicht können Menschen, die an den jeweiligen Krankheiten leiden, einen wertvollen Beitrag für die Wissenschaft leisten. „Wir sind nicht nur lebende Biobanken“, betonte Isaacs. Patienten könnten therapeutische Bedürfnisse oft viel klarer formulieren als Forscher, darüber hinaus könnten sie weitere Finanzierungsquellen für die Forschung erschließen oder über Patientennetzwerke bei der Rekrutierung von Versuchspersonen für klinische Studien helfen.

Für die Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen kamen Wissenschaftler, Spezialisten und Patienten in Genf zusammen.Lightbox-Link
Für die Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen kamen Wissenschaftler, Spezialisten und Patienten in Genf zusammen.Quelle: Merck Serono
 

Gerade bei den sehr komplexen neurodegenerativen Erkrankungen sind die Erprobungen des Wirkstoffs am Patienten ein bedeutendes Element der Medikamentenentwicklung. Allerdings existiert nach wie vor eine Kluft zwischen der Grundlagenforschung im Labor und der Erprobung des Gefundenen in der Klinik. Aus diesem Grund entstehen überall auf der Welt neuartige Forschungseinrichtungen, die diese Kluft überbrücken sollen.

Das Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen ist einer der ambitioniertesten deutschen Anstrengungen in diese Richtung (mehr..). Bis zu 600 Forscher sollen im Zentrum einmal arbeiten. Das jährliche Budget beträgt 66 Millionen Euro. 90 Prozent davon trägt das Bundesministerium für Bildung und Forschung, 10 Prozent übernehmen die beteiligten Länder.

DZNE: Von Null auf neues Forschungszentrum im Aufbau

Offiziell wurde das DZNE in Bonn im April 2009 eingeweiht, gerade befindet es sich mitten im Aufbau. 320 Forscher sind schon angeworben, darunter international renommierte Forscher wie Professor Donato Di Monte, aber auch zahlreiche Nachwuchsgruppenleiter wie Sybille Krauß, die erst kürzlich mit einer Veröffentlichung für Aufsehen sorgte (mehr....). Sie und viele andere Forscher am DZNE in Bonn sind derzeit vor allem mit dem Aufbau und der Ausstattung ihrer Labore beschäftigt. Darüber hinaus gilt es, die Kollegen – auch an den anderen DZNE-Standorten, die sich über das ganze Land verteilen – kennenzulernen.

In Bonn residiert das DZNE noch in einem angemieteten Gebäude, das eigene Haus existiert erst auf dem Papier. „Wir haben von Null an begonnen“, sagt Gründungsdirektor Pierlugi Nicotera. Er weiß: Soll ein Forschungszentrum von Grund auf neu entstehen, ist viel Organisationsarbeit vonnöten. Nicotera setzt dabei vor allem auf angewandte Forschung und eine gute Vernetzung. „Wir sind in erster Linie ein translationales Institut“, sagt Nicotera. „Unsere Aufgabe ist es, die verschiedenen Kulturen des Labors und der Klinik unter einem Dach zu verbinden.“ Dafür hat Nicotera enge Kooperationen mit den Universitäten und Universitätskliniken an den acht DZNE-Standorten in Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München, Rostock/Greifswald, Tübingen und Witten geschlossen. Mit der entsprechenden Expertise in der Grundlagenforschung, so die Idee, können dann gemeinsam mit Pharmaunternehmen Wirkstoffe bereits in einer frühen Phase erprobt werden.

Ziel: Klinische Studien verbessern

Verschiedene Krankheiten, gemeinsame Ansätze: Merck hat eine übergreifende Forschungsabteilung für neurodegenerative Erkrankungen geschaffen.Lightbox-Link
Verschiedene Krankheiten, gemeinsame Ansätze: Merck hat eine übergreifende Forschungsabteilung für neurodegenerative Erkrankungen geschaffen.Quelle: Merck Serono
Neben diesem translationalen Ansatz will Nicotera aber noch Grundsätzlicheres erreichen. „Im vorwettbewerblichen Bereich wollen wir zusammen mit Unternehmen erkunden, wie sich klinische Studien besser organisieren lassen, damit es nicht so viele Fehlschläge gibt.“ Ein neues gemeinsames Regelwerk soll die Ansprüche und die Ziele vereinheitlichen und für die Regulierungsbehörden transparenter machen, so Nicotera. „Voraussichtlich noch in diesem Jahr werden wir Unternehmen einladen, um alle an einen Tisch zu bringen und eine derartige Regelplattform auf den Weg zu bringen.“

Der Tag in Genf zeigte für alle Beteiligten, dass neue Ansätze bei neurodegenerativen Erkrankungen dringend vonnöten sind. Noch nämlich sind die ursächlichen Zusammenhänge weder bei Alzheimer, noch bei Parkinson oder Multipler Sklerose verstanden. Nicotera will sich deshalb auch in der Forschung nicht auf einen Ansatz beschränken: chemische Wirkstoffe, Stammzellen, Gentherapie, Impfung – alle diese Wege sind aus seiner Sicht denkbar. Ein bisschen ließ er sich bei seinem Vortrag dann aber doch in die Karten schauen. Für sehr aussichtsreich hält er zum Beispiel einen Mechanismus, der Nervenzellen neue Verästelungen ausbilden lässt. Daran beteiligt ist ein kleiner RNA-Schnipsel, die microRNA 29b. Die Fähigkeit, neue Verästelungen und Verbindungen zu schaffen, „die Plastizität ist der Schlüssel“, sagte Nicotera. Die Wissenschaftler des DZNE werden bei derartigen grundlegenden Mechanismen ansetzen und damit der Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen ein stabiles – und mehrere Krankheiten vereinendes – Fundament verleihen, wie Nicotera hofft. Das könnte die Forschung auf neue Wege führen. Denn bei diesem so komplizierten Forschungsfeld sind die Forscher – das zeigen auch die vielen Rückschläge – immer wieder in Sackgassen gelandet.

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