Alzheimer: Chromosomen-Überschuss lässt Nervenzellen sterben

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Haben Nervenzellen zu viele Chromosomen, sterben sie bereits früh und verursachen so Alzheimer, vermuten die Leipziger Forscher. Quelle: NHGRI

28.07.2010  - 

Alzheimer gilt als Fluch des Alters, die allermeisten Patienten sind älter als 65 Jahre. Dabei wird die Grundlage für die Krankheit schon bei der Gehirnentwicklung im Kindesalter gelegt, wie ein aufsehenerregender Artikel im American Journal of Pathology (Bd. 177, S.1 5, 2010) nun nahelegt. Forscher um Thomas Arendt vom Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig stellen darin eine neue Erklärung für die Entstehung von Alzheimer vor. Demnach sind Gehirnzellen mit einem mehrfachen Satz an Erbgut dafür verantwortlich, dass es im Alter zu verheerenden Massensterben der Nervenzellen kommt. Wenn sich die Theorie bestätigt, wäre ein Frühindikator für Alzheimer gefunden.

Als die Alzheimer-Experten der Abteilung „Molekulare und zelluläre Mechanismen der Neurodegeneration“ am Paul-Flechsig Institut der Universität Leipzig mehr und mehr Gewebeproben aus den Gehirnen verstorbener Alzheimer-Patienten untersuchten, machten sie eine unerwartete Entdeckung. In vielen Zellen stießen sie auf mehr als die üblichen 46 Chromosomen.

Abgesehen von Ei- und Spermienzellen verfügt jede Zelle im menschlichen Körper üblicherweise über 22 identische Chromsomenpaare, plus einem Paar Geschlechtschromosomen, zwei X-Chromsomen bei Frauen oder einem X- und einem Y-Chromsom bei Männern. Nun kommt es manchmal vor, dass bei der Zellteilung nicht alles nach Plan läuft, sondern Tochterzellen mit zusätzlichen Chromosomensätzen entstehen. Diese sogenannten hyperploiden Zellen kommen auch bei gesudnen Menschen überall im Körper vor, im Herz ebenso wie im Gehirn. "Manche Hirnzellen tragen vier, andere sogar sechs Chromosomenpaare", sagt der Leiter der Studie, Thomas Arendt vom Paul-Flechsig Institut. "Im Gehirn von Alzheimer-Patienten stellen wir aber eine doppelt so hohe Anzahl fest“, so der Alzheimer Forscher. Das könne der Körper nicht mehr kompensieren. „Es scheint eine Toleranzgrenze durchbrochen zu sein."

Paul Flechsig-Institut für Hirnforschung

Paul Flechsig, 1877 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie berufen, gründete an der Universitätsklinik Leipzig das "hirnanatomische Laboratorium". Hier entstand 1927 die erste Professur für Hirnforschung in Deutschland. Das heutige Paul-Flechsig-Institut entstand 1974.

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Zu viele Chromosomen lassen die Zellen schwächeln

Was bewirkt das Überangebot an überfrachteten Nervenzellen im Gehirn? Die Leipziger vermuten, dass die hyperploiden Neuronen ein verfrühtes Verfallsdatum aufweisen. Sie stellen ihre Funktion zu einem Zeitpunkt ein, an dem gewöhnliche Nervenzellen noch ein paar Jahrzehnte vor sich haben. Dieses massenhafte Absterben führt dazu, dass das Gehirn seine Funktion nicht mehr richtig erfüllen kann. Die Diagnose: Alzheimer.

Indem sie die Gehirne von Menschen in verschiedenen Alzheimer-Stadien untersuchten, konnten die Wissenschaftler das Vorkommen an chromosomenreichen Nervenzellen in verschiedenen Phasen messen. In Proben von Patienten, die zum Zeitpunkt ihres Todes gerade am Anfang der Erkrankung standen, war die Rate an hyperploiden Zellen außergewöhnlich hoch. Sie stieg im weiteren Verlauf sogar noch weiter an. Beim schwer an Alzheimer erkrankten Patienten dagegen konnten die Wissenschaftler nur noch wenige hyperploide Zellen zählen. "Ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie abgestorben sind“, meint Arendt. „Denn Zellen verschwinden ja nicht einfach so."

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Weichen für Alzheimer schon im Kindesalter gestellt

Eine Heilung bietet sich durch diese Entdeckung nicht, sie ist vor allem interessant im Hinblick auf die Entstehung der Krankheit. Denn die allermeisten Nervenzellen entstehen im frühen Kindesalter. "Wir sind ziemlich sicher, dass diese übergroße Gruppe an hyperploiden Zellen schon während der Gehirnentwicklung des Kindes entsteht", sagt Arendt. Das heißt, die Weichen für Alzheimer werden offenbar schon sehr früh gestellt. Arendt geht noch einen Schritt weiter. "Alzheimer scheint in der Tat angeboren zu sein."

Noch ist die Rolle der hyperploiden Zellen aber nur eine Hypothese. Denn ob sie wirklich empfindlicher sind als normale Zellen, können die Leipziger Forscher bisher nur vermuten. In Mäusen konnte eine übergroße Empfindlichkeit und eine erhöhte Sterberate noch nicht nachgewiesen werden. Außerdem erklärt das neue Modell auch nicht die anderen Symptome, die bei Alzheimer auftreten, zum Beispiel die bekannten Plaque-Klumpen, die sich aus abgetrennten Proteinen bilden und die Nervenzellen schädigen.

Die Beobachtung wird wohl auch nicht unmittelbar einen Ansatzpunkt für eine neue Therapie liefern, da eine Vervielfältigung des Chromosomensatzes bisher nicht rückgängig zu machen ist. Andererseits könnte die Rate an hyperploiden Neuronen, falls sich der Zusammenhang mit Alzheimer bestätigt, zu einem Frühindikator für die Erkrankung werden. So gäbe es genug Zeit, eventuelle Vorsorgemaßnahmen zu treffen. Die Leipziger wollen zunächst einmal erkunden, warum die Nervenzellen mit zu vielen Chromosomen anfälliger sind, ob sie sich auch in anderen Organen anreichern und was die Entwicklungsstörung eigentlich auslöst. "Schnelle Antworten wird es nicht geben", warnt Arndt.

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