Biotech-Arzneien als Kostentreiber in der Kritik

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Mehr als 100 Arzneien werden bereits mit biotechnologischen Verfahren hergestellt, wie hier bei Boehringer Ingelheim in Biberach. Quelle: Boehringer Ingelheim

11.06.2009  - 

Biotechnologisch hergestellte Arzneien entwickeln sich offenbar zunehmend zu einem Kostenfaktor im Gesundheitssystem. Dies ist das Fazit einer Studie der Gmünder Ersatzkasse (GEK). Demnach sind die Arzneimittelausgaben im Jahr 2008 erneut gestiegen, auf nunmehr rund 30 Mrd. Euro.  Dabei entfallen auf Biotech-Medikamente rund 13 Prozent der Ausgaben, obwohl sie nur vier Prozent der gesamten GKV-Verordnungen darstellen. Wenn sich daran nichts ändert, könnten diese Medikamente langfristig „systemsprengend“ wirken, so Gesundheitsökonom Gerd Glaeske als Mit-Autor der GEK-Studie.

Dies gilt aus seiner Sicht insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Preise, die von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) übernommen werden müssen, von den Herstellern selbst festgelegt werden können. Und diese lägen bei Biotech-Arzneien bislang deutlich über den Kosten anderer Präparate. Jahrestherapiekosten zwischen 50.000 und 80.000 Euro seien keine Seltenheit, insbesondere bei der Behandlung von Krebs.

Arzneimittelreport

Die Gmünder Ersatzkasse veröffentlicht jedes Jahr einen Arzneimittelreport. In diesem Jahr stehen vor allem Biotech-Arzneien in der Kritik.

zum Report 2009 (Langfassung): PDF-DOWNLOAD

zum Report 2009 (Kurzfassung): PDF-DOWNLOAD

Aus Sicht der Pharmaindustrie sollten Biotech-Medikamente jedoch nicht nur unter dem Kostenaspekt betrachtet werden, sondern als Zeichen für Innovation. Derzeit sind in Deutschland nach Recherchen des VFA mindestens 134 Arzneimittel mit 99 Wirkstoffen zugelassen, die biotechnologisch hergestellt werden. Damit werden vor allem Patienten mit Diabetes (Insuline), Blutarmut (EPO-Präparate), rheumatoide Arthritis (Immunmodulatoren), Krebserkrankungen (monoklonale Antikörper) und angeborenen Stoffwechsel- und Gerinnungsstörungen (Enzyme, Gerinnungsfaktoren) behandelt sowie Schutzimpfungen (Gebärmutterhalskrebs, Hepatitis B) durchgeführt. Nach Ansicht von VFA-Geschäftsführerin Cornelia Yzer ermöglichen diese Arzneien „beachtliche Therapiefortschritte“. Insofern sei ihr Anteil an den Arzneimittelausgaben der Kassen kein Alarmsignal, sondern ein Zeichen für therapeutischen Forschritt, so Yzer.

Forscher mit Schutzbrille hält Reagenzglas in der Hand und betrachtet es.Lightbox-Link
Biotechnologie in der Medizin: Das größte Anwendungsfeld der Biotechnologie liegt in der Medizin. Sie wollen sich genauer darüber informieren? In unserem Dossier Basiswissen gehen wir ausführlich darauf ein.

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Biotechnologie steht für Paradigmenwechsel in Medizin

Biotech-Präparate stehen in der Medizin für einen Paradigmenwechsel. So ermöglichen sie inzwischen Therapien, die nicht mehr nur Symptome angehen, sondern gezielter an den Ursachen angreifen.  Dies ist unter anderem ein Verdienst der Genom- und Proteomforschung. Je besser Forscher verstehen, welche Gene für die Produktion bestimmter Eiweiße zuständig sind, umso eher können sie zielgerichtete Medikamente entwickeln. Denn genau das ist eines der Ziele in der medizinischen Biotechnologie: biologische Moleküle ganz gezielt für therapeutische Zwecke zu nutzen. Gerade bei Volkskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Krebs haben Wissenschaftler auf der Basis neuester Erkenntnisse bereits zahlreiche neue Ansätze für eine noch effizientere Behandlung mit weniger Nebenwirkungen oder gar Heilung von Krankheiten entdeckt. So eröffnet die Biotechnologie  ganz neue Optionen und verbessert zugleich die Einsatzmöglichkeiten für die klasssische, mit chemischen Molekülen arbeitende Pharmaindustrie. Biotechnologische Verfahren helfen nämlich auch hier, neue oder effektivere Zielstrukturen zu finden.

Zum Einsatz kommt sie jedoch nicht nur bei der Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze. Auch die Herstellung von Medikamenten erfolgt heutzutage immer stärker biotechnologisch. Dies gilt vor allem für eiweißbasierte Medikamente wie Antikörper oder Hormone. Solche aktiven Biomoleküle lassen sich in ihrer dreidimensionalen Form nur von lebenden Organismen oder Zellen produzieren. Ein chemischer Nachbau funktioniert nicht. Dass Mikroorganismen und Zellen inzwischen so verändert werden können, dass sie das gewünschte Biomolekül passgenau herstellen, ist ein Verdienst der Gentechnik.

Dilemma: Große Patientenvorteile, aber hohe Kosten

Aufgrund dieser Vorteile wird der Einsatz der Biotechnologie in der Medizin – da sind sich alle Experten einig – in Zukunft steigen. Dies verdeutlichen auch diesbezügliche Investitionen seitens der Pharmaindustrie, wie zuletzt Sanofi-Aventis am Standort Frankfurt (mehr...). Für die Arzneimittelhersteller sind die Biotech-Präparate auch ein gutes Geschäft, wie die Übersicht der Umsätze zeigt (siehe Tabelle). Zugleich müssen Unternehmen aber auch immer mehr in Forschung und Entwicklung investieren, um überhaupt ein neues Arzneimittel zu entwickeln. Diese Kosten werden pro Präparat auf rund 800 Millionen Euro geschätzt. Hinzukommt, dass die Herstellung von Biotech-Arzneien in lebenden Organismen auch deutlich aufwändiger und damit teurer ist als die Produktion von einfachen, chemischen Molekülen.


Arzneimittel in Deutschland nach Umsatz

RangArzneimittel (Wirkstoff)AnwendungsgebietHerstellerUmsatz 2008
1Humira (Adalimumab)Rheumatoide ArthritisAbbott232 Mio. Euro
2Enbrel (Etanercept)Rheumatoide ArthritisWyeth204 Mio. Euro
3Glivec (Imatinib)KrebsNovartis193 Mio. Euro

Quelle: IMS (2008)

Für die Krankenkassen sind die Kosten allerdings ein Problem. Wird beispielsweise aus einer tödlichen Krebserkrankung eine chronische – wie das mithilfe der meisten Biotech-Präparate der Fall ist – entsteht ein Dilemma. Der Patient kann weiterleben, wieder am Alltag teilnehmen, im besten Fall arbeiten gehen und Steuern zahlen. Auf der anderen Seite zahlt die Krankenkasse weiter. Die zunehmenden chronischen Erkrankungen sieht auch Glaeske als Hauptproblem. Inbesondere in westlichen Gesellschaften „werden Arzneimittel zu jahrelangen Begleitern chronisch kranker Menschen, sie kontrollieren bestenfalls die Krankheit, ohne sie heilen zu können“, heißt es in der GEK-Studie. Gleichzeitig sei der Anstieg der Arzneimittelkosten auch auf die stärker verfolgte ambulante Behandlung zurückzuführen, bei der naturgemäß mehr Arzneimittel zum Einsatz kommen. Problematisch aus Sicht von Glaseke ist, dass die derzeit praktizierte Kosten-Nutzen-Bewertung nicht zur Kostendämpfung bei Biotech-Präparaten beitragen kann.

Hintergrund
Die Entwicklung neuer Arzneien kostet viel Geld. Nicht zuletzt aus diesem Grund zählt die Pharmaindustrie zu den forschungsintensivesten Wirtschaftszweigen. Das hat auch eine EU-Studie belegt.

zur EU-Studie: BioPharma-Sektor investiert am meisten in Forschung und Entwicklung

Glaeske: Ohne Preisverhandlung keine Zulassung für GKV-Markt

Bisher kann die entsprechende Einrichtung, das Institut für Qualitität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), nämlich nur dann ansetzen, wenn es um vergleichende Bewertungen zwischen verschiedenen Behandlungsalternativen geht. Kommt eine neue Therapie auf den Markt, die erstmals überhaupt Behandlung ermöglicht bzw. als sogenannte erste Therapie zugelassen wird, kann das IQWiG nach deutscher Gesetzeslage nicht aktiv werden. Glaeske fordert indes, dass kein Präparat mehr ohne Preisverhandlung auf dem GKV-Markt zugelassen werden darf. Und GEK-Vorstandschef Rolf-Ulrich Schlenker plädiert dafür, dass Ärzte künftig nur noch einen einzigen Wirkstoff verordnen sollten und die Apotheker die Auswahl des wirtschaftlichsten Mittels vornehmen. Dabei sollen noch konsequenter als bisher kostengünstigere Generika zum Einsatz kommen. Hierdurch, so die GEK-Studie, sei rein rechnerisch ein Einsparpotenzial von bis zu 24 Millionen Euro möglich. Für die teuren Biotech-Medikamenten gilt dies allerdings nur eingeschränkt. Zwar gibt es auch hier inzwischen erste Nachahmerpräparate (Biosimilars) mit  einer Kostenreduktion von bis zu 25%, doch die hohen Ausgangspreise würden laut GEK-Studie am Ende zu keiner „nachhaltigen Ausgabenentlastung“ führen.

Mehr Informationen zum BioPharma-WettbewerbLightbox-Link
Biopharma-Wettbewerb: Bei der Entwicklung neuer Medikamente ist die Biotechnologie nicht mehr wegzudenken, doch bislang stammen nur wenige Biotech-Präparate aus Deutschland. Vor diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Sommer 2007 den BioPharma-Wettbewerb gestartet.

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Industrie: Pay for Performance-Modelle ausloten

Das Problem der teuren Biotech-Therapien wird unter Medizinern schon länger diskutiert. Große Hoffnung werden auf die Entwicklung neuer Biomarker gesetzt, mit deren Hilfe herausgefunden werden kann, welches Medikament bei wem wirkt und welches nicht - so können insbesondere aufwändige Therapien noch passgenauer eingesetzt werden. Für einige Biotech-Arzneien gibt es diesen Schritt in Richtung personalisierte Medizin schon, beispielsweise bei Brustkrebs. Und dies könne langfristig auch zu einer Kosteneinsparung beitragen, heißt es in der Industrie. „Weil wir es hier mit messbaren Erfolgen zu tun haben, könnten wir uns auch ein Modell ‚Pay for Performance’ mit den Krankenkassen vorstellen“, erläuterte Hagen Pfundner, Vorstandsmitlgied des Schweizer Pharmakonzerns Roche jüngst bei einer Expertenrunde im Bundestag (mehr...). So habe man als Firma Planungssicherheit, könne dem Gesundheitssystem aber bei den Kosten entgegenkommen.

IQWiG: Kosten in Relation zu Nutzen setzen

Auch das IQWiG wird aktiv. Noch in diesem Jahr soll ein Methodenvorschlag zur Kosten-Nutzen-Bewertung erarbeitet werden. Bislang wurde nämlich nur der Nutzen von Therapien gegenüber alternativen Behandlungsmethoden analysiert, nun sollen die Kosten zum Nutzen in Relation gesetzt werden, um den Krankenkassen einen Höchstbetrag vorzuschlagen. Ob der dann von den Krankenkassen akzeptiert wird, ist allerdings eine zweite Frage. „Wir wollen ein lernendes System schaffen“, sagt IQWiG-Chef Peter Sawicki.

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Kurzfilme zur Biotechnologie in unserer Videorubrik

Ob Medizin, Landwirtschaft oder Industrie - in unserer Videorubrik finden Sie eine ganze Reihe von Kurzfilmen, die Sie leicht verständlich in die Welt der Biotechnologie einführen. 


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Von A wie Antikörper bis Z wie Zellkultur - die Kreidezeit erklärt Begriffe aus der Biotechnologie kurz und knapp an der Tafel. Alle Videos finden Sie in unserem Filmarchiv.


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